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PALMBAUM
(Heft 1/1995)

Wolfgang Hilbig:
Die Kunde von den Bäumen
Frankfurt/ Main 1994, 119 Seiten
ISBN 3-10-033622-4
Endzeit in der Provinz




Wolfgang Hilbig ist längst kein Geheimtip mehr. Eineinhalb Jahrzehnte nachdem bei S. Fischer der Lyrikband abwesenheit erschien, rechnet man ihn heute zu den sprachmächtigsten Autoren seiner Generation und scheut, nach Vergleichen suchend, die großen Namen nicht. Einen "Hölderlin des Tagebaus" hat ihn Karl Corino getauft, Franz Kafka und Georg Trakl, Charles Baudelaire und Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard werden herangezogen, wenn es gilt, Hilbig einer Tradition zuzuordnen. Nachdem der 1941 in Meuselwitz Geborene zunächst mit Gedichten Erfolg hatte, verlegte er sein Hauptinteresse späterhin auf das Gebiet der Prosa. Mit Die Weiber (1987) machte er nachdrücklich auf sich aufmerksam, die Erzählung Alte Abdeckerei (1991) - Adolf Endler zählt sie unter die "Höllenbücher" unseres Jahrhunderts - bedeutet den bisherigen Höhepunkt seines Schaffens, der Roman ICH stellte vor einem Jahr die bis dato skurrilste und gewagteste Auseinandersetzung mit dem Stasi-Thema dar.

"Erzähle, damit der Faden nicht abgeschnitten wird...Damit der Strom nicht unterbrochen wird, damit das Licht über den Tischen nicht ausgeht. Erzähle, sonst wirst du ohne Vergangenheit sein, ohne Zukunft, nur noch willenloser Spielball der Bürokratie." Diese Sätze, ein Credo seiner eigenen, dichterischen Bemühungen, hat Hilbig seinem Alter ego in Die Kunde von den Bäumen in den Mund gelegt. Der Text entstand 1991, wurde ein Jahr später in einer limitierten Auflage mit Lithographien des Leipziger Künstlers Olaf Nicolai einem begrenzten Publikum zugänglich gemacht und ist nun - teilweise stark überarbeitet - bei S. Fischer erschienen. Mit ihm kehrt Hilbig an jene Orte zurück, die seine dunkle dichterische Phantasie, seinen Hang zum Nachtseitigen, Apokalyptischen am nachhaltigsten inspirierten, die zerstörte Landschaft der Tagebaue südlich Leipzigs und den isolierten Platz des schreibenden Arbeiters, der seinesgleichen zum Skandal geworden ist, das Geschäft des Erinnerns aber nicht anders zu betreiben vermag als mittels fiktionaler Vergegenwärtigung.

Das Buch reflektiert eine Endzeit, die jene der DDR sein könnte - Anspielungen in diese Richtung finden sich zuhauf. Allein die Nachbemerkung des Autors, den Korrekturimpuls auf eine im Stoff liegende "größere Differenz" zurückführend, und neuerliche Äußerungen Hilbigs, die in scheinbarer Paradoxie die DDR als Identitätsrahmen 1989 erst entstehen lassen, deuten darauf hin, daß der Dissens, dem Die Kunde von den Bäumen Ausdruck verleiht, tiefer geht. Er meint den Menschen, nicht den Staatsbürger, die Natur, nicht die Heimat, die Wirklichkeit und nicht die - in Hilbigs Sprachgebrauch streng davon geschiedene -Realität. Sie alle sind bedroht, in einen unheimlichen Verfallsprozeß verwickelt, der im Text selbst Gestalt annimmt in Bergen von Müll und Abraum, die sich um eine Kleinstadt herum auftürmen, auf sie zuwachsen, sie langsam einschließen und ihre Lebensadern kappen.

Gespenstisch und bedrückend ist die Szenerie, in der Hilbigs Ich-Erzähler Waller Orientierung sucht. Voller Desinteresse seinen Mitmenschen gegenüber, einer amorphen Masse von angepaßten, lethargisch dahinvegetierenden Gestalten, kommt seine Zeit mit der Dämmerung, wenn er der Stadt den Rücken kehren kann, stundenlange Wanderungen in den Müll hinaus unternimmt und dort Wesen trifft, die ihn auf unbegreifliche Weise in ihren Bann ziehen. Sie sind damit beschäftigt, den Abfall zu durchforschen, zu sichten und zu ordnen - und wehren alle Kontaktversuche energisch ab. Waller kann sie nur belauern, ihrem Tun nachforschen und die Spuren und Signale lesen, die sie hinterlassen. Und allmählich versteht er, was ihn an der mit Tagesanbruch verschwindendenden Gesellschaft fasziniert. Es ist nicht allein ihr krasses Außenseitertum, sondern die allnächtliche Zelebration einer Suche nach dem Brauchbaren in wachsenden Schichten des Abgelebten. Die Überreste einer an ihren eigenen Hervorbringungen erstickenden Ordnung werden auf ihre Tauglichkeit für eine - wenn auch höchst ungewisse - Zukunft überprüft.

Letztendlich richtet sich auch das verborgene Schreiben des tagsüber arbeitenden Waller - lange Zeit ein beständiges Scheitern vor dem weißen Papier - an seinem wachsenden Verständnis jener Gegenwelt aus, ja ist der Tätigkeit der Männer im Müll verwandter, als es Hilbigs Ich-Erzähler zunächst wahrhaben will. Denn mit seinem Text arbeitet er sich assoziativ in die Vergangenheit einer Landschaft vor. Signalhaft scheinen die Dinge auf, von Nutzen und Wert befreit, auf ihre Substanz reduziert, doch dadurch eben unzerstörbar, jeglichem Verbrauch entzogen. Sie beginnen in den Händen des Müllarbeiters zu erzählen, und unter der Feder des Schriftstellers entfaltet sich ihr Wesen zu Geschichten, die Waller vergeblich versucht hatte, der Normalität seines Alltags abzutrotzen. Jetzt, in der Konfrontation mit der lemurenhaften nächtlichen Gemeinschaft, enthüllt sich Hilbigs Protagonisten plötzlich der Grund seiner Schreibunfähigkeit, und der ungeheure Stoff all seiner künftigen Arbeiten beginnt sich vor ihm aufzutürmen: "Es waren die Geschichten des Abfalls von diesem Volk! Es waren beiseitegeschaffte Geschichten, und es gab sie nur auf den nicht geheuren Plätzen außerhalb der Stadt."

Die Kunde von den Bäumen wird durch diese explizit ins Licht gerückte Affinität zwischen Müllarbeiter und Dichter zu einer versteckten poetischen Rechtfertigung ihres Autors selbst, einem Wegweiser an die Quellen von Wolfgang Hilbigs bisher vorliegenden Werk. Mit seinem Leitmotiv, den - schon im Titel präsenten - Bäumen, die , einst blühende Alleen, nun die Ränder des Abfalls säumen, Waller Deckung bieten und ihn erinnern an Zeiten der Blüte, insistiert der Text zusätzlich auf der Widerstandsfähigkeit der Natur zivilisatorischem Zerstörungswahn gegenüber. Eine "Kunde von den Menschen" allerdings verweigert er entschieden.

© 1995 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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