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Die aktuelle Rezension
(März 2010)

Arne Dahl:
Dunkelziffer
München: Piper Verlag 2010,
416 Seiten
ISBN 978-3-492-05350-1


... alles andere aus der Krimiwelt
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Je länger der Schwede Arne Dahl die Entwicklung seiner A-Gruppe - jener legendären Einheit zur Bekämpfung von Kriminalität mit internationalem Einschlag bei der Reichspolizei seines Heimatlandes - vorantrieb, in desto größere Zusammenhänge stellte er ihr Wirken. Ging es in Misterioso (Originalausgabe 1999, deutsch 2002, inzwischen liegen bei Piper acht der zehn Bände um die A-Gruppe vor) mit der Jagd auf den so genannten "Machtmörder" noch um einen fast "normalen" Fall auf schwedischem Boden, weiteten sich die Schauplätze Dahls in den Folgebänden beständig aus. Und das war nicht nur räumlich, sondern auch weltzeitlich zu verstehen. Totenmesse endlich, der Vorgänger von Dahls aktuell auf Deutsch vorliegendem Roman, blendete partienweise bis in die Belagerung Stalingrads durch die deutsche Armee im Jahre 1941/ 42 zurück und konstruierte eine Handlung, die auf die ganz großen globalen energiepolitischen und ökologischen Probleme abhob. Gleichzeitig erfuhr das Rachemotiv eine immer stärkere Betonung.

Nun also Dunkelziffer. Und weil die Welt von den vorhergehenden Bänden inzwischen praktisch ausgeschritten ist, wird jetzt der Weg in die virtuelle Realität eingeschlagen. Mit einem Wort: Es geht ums Internet. Das erleichtert heute - wer wüsste das nicht - so einiges. Es erschwert allerdings auch ein paar Sachen, zum Beispiel die Verfolgung von Straftaten. Und aufgrund der Existenz von im geografischen Sinne ortlosen Orten erscheinen auch einige von alters her wohleingeführte Dinge plötzlich in überraschend neuer Beleuchtung. Etwa die Liebe samt ihren sexuellen Kollateralschäden.

Wenn Dunkelziffer ein alles überragendes Thema hat, dann ist es genau dieses "Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst ....", also die aktuelle Beschaffenheit jenes Gefühls, von dem Jean Anouilh (1910 - 1987) einst behauptet haben soll, es sei "auch so ein Problem, das Marx nicht gelöst hat." Alle uns inzwischen so vertrauten A-Gruppen-Leute, die, welche von Anfang an dabei waren, und jene, die erst später dazugekommen sind, Paul Hjelm wie Kerstin Holm, der bleiche Finnlandschwede Arto Söderstedt nicht weniger als sein kongenialer Partner Viggo Norlander haben Beziehungsprobleme. Das ganze Spektrum von Fallen, in die man auf geschlechtlichem Terrain stolpern, von Aufwallungen, die einen erhitzen, von Glücks- wie Unglücksmomenten, die sich beim Verfolg von sexuellen Angelegenheiten einstellen können, wird durch die Männer und Frauen aus dem innersten Kreis von Arne Dahls Erzählwelt abgedeckt. Bis auf jene erst in jüngster Zeit hinzugekommenen Möglichkeiten eben, die sich bieten, wenn man mit den entsprechenden Gefühlen online geht. Die beutet nämlich hauptsächlich das Verbrechen aus.

Und das tut es in diesem Roman auf breiter Front - in Form eines Pädophilenrings nämlich, der die Anonymität des Netzes nutzt, um seinen gut getarnten Mitgliedern all die geheimen Wünsche zu erfüllen, die ansonsten tabu sind. Da werden nicht nur anstößige Bildchen zwischen den Festplatten hin- und hergeschoben. Da gibt man sich Tipps, lädt sich gegenseitig ein, tauscht Erlebnisse und Schlimmeres aus, bis irgendwann ein toter Teenager zu beklagen ist und die A-Gruppe in die Startlöcher springen muss.

Allein wo viel Schatten ist, da ist auch viel Licht. Womit wir wieder bei einer dieser typischen Rachegeschichten Dahls angekommen wären. Denn es existiert in seinem Buch eine geheime Gesellschaft, die wenig von der Art und Weise hält, wie der Staat mit Kinderschändern umgeht, und sich deshalb geschworen hat, nicht eher zu ruhen, bis der letzte Päderast zwischen Stockholm und Göteborg, Malmö und Östersund hinter seinem Nicknamen hervorgekrochen ist. Und ihr Hauptziel verfolgt diese in einer Jahrhunderte alten Geheimgesellschaft wurzelnde Organisation mit nicht gerade zimperlichen Methoden - Eros conta Thanatos, Lebens- gegen Todestrieb.

Wenn man eines Arne Dahl nie vorwerfen konnte, dann dass er die einzelnen Bestandteile zu seinen Romanen schlampig verrühren würde. Nein, kompositorisch ist auch Dunkelziffer wieder nicht mehr und nicht weniger als ein Meisterwerk. Ein Roman, der vielstimmig beginnt und anschließend alle einzelnen Stimmen bündelt, um sie in einem großen Finale zusammenzuführen. Zusätzliche Brisanz erzeugen diesmal vor allem die Variationen des Hauptthemas durch die ergänzenden Lebensgeschichten der einzelnen Kriminalisten. Und wie man Perspektiven wechselt, Zwischenzusammenfasssungen, ohne die der Leser manchmal verzweifeln würde, so geschickt wie unauffällig platziert oder mit sympathischer Selbstironie punktet - man kann es nicht besser lernen als hier.

Also keine Einwände? Na ja, im Prinzip nicht, aber … am Ende ist mir dann doch ein bisschen zu viel Eyes Wide Shut in die Choreographie geraten. Und mit Joseph Conrads Herz der Finsternis muss auch nicht ständig gespielt werden - hier freilich ist es konstitutiv für die Handlung und deshalb wohl schlecht weglassbar. Was aber Rigmondo und den leidigen Penisknochen betrifft - ich gebe damit nichts preis, was das Lesevergnügen schmälern könnte -, ist das wieder einmal so eine Sache, die es meines Erachtens nicht braucht, um die Spannung hochzuhalten.

Eines allerdings muss zum Abschluss noch Erwähnung finden. Dahl-Fans bedauern, dass zwischen Paul Hjelm und Kerstin Holm seit einigen Bänden nichts mehr läuft. In Dunkelziffer erwächst der A-Team-Chefin nun für einen Moment eine umwerfende Konkurrenz. Und ehrlich: An Paul Hjelms Stelle wäre ich schwach geworden. Aber lesen und entscheiden Sie selbst!


© 2010 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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