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Die aktuelle Rezension
(Mai 2009)

Tomas Ross:
Der Tod des Kandidaten.

München: Deutscher Taschenbuch
Verlag 2009, 317 Seiten
ISBN 978-3-423-21127-7
Die Wirklichkeit als Kriminalroman




Am 6. Mai 2002 wurde nach einer Interviewstunde in Hilversum der niederländische Rechtspopulist Pim Fortuyn erschossen. Fortuyn wurden gute Chancen nachgesagt, bei den neun Tage später, am 15. Mai 2002, stattfindenden Parlamentswahlen mit seiner Lijst Pim Fortuyn in die Regierungsverantwortung einzurücken. Der stark polarisierende Politiker hatte mit charismatischen Auftritten in der Öffentlichkeit zunehmend auf sich aufmerksam gemacht und sich sowie seine Partei als Sprachrohr jener Bürger etabliert, denen die auf Konsens und Toleranz ausgerichtete Politik der niederländischen Sozialdemokraten um Ministerpräsident de Kok zu liberal war. Der bekennende Homosexuelle sprach sich gegen den politischen Einfluss islamistischer Kreise aus, wollte die Zahl der Asylbewerber begrenzen und provozierte mit Sprüchen wie "Wählt mich, dann dürft ihr Pelzmätel tragen" Umwelt- und Tierschutzaktivisten. Sein Mörder, Volkert van der Graaf, kam denn auch aus dem Milieu radikaler Tierschutz- und Umweltorganisationen und begründete seine Tat vor Gericht damit, er habe die holländischen Muslime vor einem Mann schützen wollen, der sie als Sündenböcke zu seiner politischen Profilierung benutze.

Tomas Ross' Roman Der Tod des Kandidaten spielt im letzten halben Jahr vor Fortuyns Ermordung, von November 2001 bis zum Tag des Attentats. Ross (Jahrgang 1944), in seiner Heimat längst ein namhafter Autor mit umfangreicher Bibliographie, hat um die aus der Geschichte bekannten Persönlichkeiten eine Reihe fiktiver Figuren angeordnet und gewährt seinen Lesern Einblicke in einen Fall, der die Niederlande erschütterte wie kein zweiter in den letzten Jahrzehnten. Es entsteht dadurch eine Art Dokumentarkrimi, der seine Spannung zum einen aus der historischen Nähe - Der Tod des Kandidaten erschien im Original ein knappes Jahr nach der Mordtat -, zum anderen aus der Tatsache bezieht, dass die im Gewande eines Romans auftretende Realität durchaus Platz für weitergehende, die konkret ermittelten Fakten überschreitende Spekulationen hat.

Auf diese Weise entsteht unter dem Strich das Bild eines Verbrechens, welches durchaus zu verhindern gewesen wäre. Bei Ross sind maßgebliche Kräfte bereits vor dem Anschlag über Täter und Ziel informiert, lassen die Dinge aber laufen, weil Fortuyns die Öffentlichkeit aufrührender Aktionismus konservativ-staatstragende Kreise genauso stört wie die militante Linke. Der Kandidat und seine engsten Vertrauten waren sich in der Endphase des Parlamentswahlkampfes durchaus im Klaren darüber, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, wenn er seine provokanten Ansichten ungefiltert nach außen trug. Von der aufgeheizten Atmosphäre jener letzten Monate in seinem Leben zeugen auch die Zitate, die Ross seinem Roman vorangestellt hat. Hier ist die Rede von ganz konkreten Morddrohungen, einem ständig vorhandenen Bedrohungsgefühl bei dem späteren Opfer und dem in diesem Kontext sich mehr als scheinheilig ausnehmenden Bekundungen offizieller Stellen, es habe keinerlei Anhaltspunkte für die bevorstehende Tat gegeben.

Um den verbürgten Kern seines Buches herum hat Tomas Ross drei private Schicksalslinien gewunden. Am dichtesten mit der Realität verwoben ist dabei jene der Ex-Umweltaktivistin Anke Luyten, die nach einem vier Jahre zurückliegenden Überfall auf ein Forschungslabor ins Gefängnis gehen musste und nach Abbüßung der Strafe vom holländischen Sicherheitsdienst instrumentiert wird, ihre alten Gefährten - darunter den Fortuyn-Attentäter van der Graaf - zu bespitzeln. Ihre Liebesgeschichte mit dem assimilierten Türken Erdogan Demir sowie die Aktionen des Bildjournalisten Jim de Booy, der Anke von früher kennt und nun das Gefühl hat, über sie an sensationelles Material herankommen zu können, geben der Geschichte ein wenig Sex und Spannung und sorgen für die unauffällige Platzierung historisch notwendiger Informationen, damit auch die mit dem Fall wenig vertrauten Leser Einblicke in Hintergründe bekommen.

Über diese funktionelle Bedeutung für das Buch hinaus bleiben die erfundenen Figuren freilich blasse Sprachrohre der gesellschaftlichen Schichten, denen sie angehören. Und unterstreichen damit die nicht ganz so neue Erkenntnis, dass ein Buch, wenn es Realität und Fiktion miteinander vermengt, dies immer auf Kosten eines der beiden Bestandteile tut. Beim Tod des Kandidaten ist es zweifellos der "Kriminalroman", der hinter der "Wirklichkeit" zurückbleibt.



© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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