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Tom Rob Smith:
Kolyma.

Köln: DuMont Buchverlag
2009, 476 Seiten
ISBN 978-3-8321-8089-8
Freiwillig in die Hölle




Der Komplex von Arbeits- und Umerziehungslagern (GULAG) im äußersten Nordosten Russlands wurde im Jahr 1932 ins Leben gerufen. Bis zur Mitte der 50er Jahre arbeiteten hierher verbrachte politische und kriminelle Häftlinge - während des Zweiten Weltkriegs auch Kriegsgefangene - an der industriellen Erschließung des rohstoffreichen Fernen Ostens. Die Zahl der in die Lager Verbannten stieg von anfänglich ca. 10.000 Menschen im Jahr auf knapp 200.000 um 1950. Unmenschliche Lebens- und Arbeitsbedingungen forderten bis zur Auflösung der Lager in der Kolyma-Region annähernd eine Million Tote.

Mit Kind 44 (2008, deutsch ebenfalls bei Dumont) hat der junge britische Autor Tom Rob Smith (Jahrgang 1979) dem Thriller Neuland erschlossen. Sein Held, Leo Demidow, lebt in der Sowjetunion der 40er/ 50er Jahre des letzten Jahrhunderts und arbeitet für den stalinistischen Geheimdienst. Kolyma, die im Laufe eines knappen Jahres entstandene Fortsetzung des erfolgreichen Erstlings, erzählt die Geschichte Demidows weiter. Zeitlich bewegt sich die Handlung nach einer einleitenden Rückblende ins Jahr 1949 vor allem in dem auch politisch wichtigen Jahr 1956. Historisch von Bedeutung sind Stalins Tod im März 1953, Chruschtschows so genannte "Geheimrede" auf dem 20. Parteitag der KPdSU drei Jahre später sowie der durch die Sowjetarmee blutig niedergeschlagene Volksaufstand in Ungarn Ende 1956.

Mit allen drei Ereignissen, die der Autor aufwändig und historisch stimmig recherchiert hat, bringt Rob Smith seine Protagonisten in Verbindung. Zunächst erhält der Leser Einblick in den Alltag des jungen Geheimdienstler Demidow, der für die Vorgängerorganisation des KGB arbeitet und sich Ende der 40er Jahre seine ersten Sporen verdient, indem er einen Moskauer Priester skrupellos ans Messer liefert. Dieser sowie dessen Frau Anisja, deren Vertrauen und wohl auch Liebe Leo missbraucht hat, um sich unter falschem Namen in Kirchenkreise einzuschmuggeln, verschwinden daraufhin für Jahre in der Hölle der sibirischen Arbeitslager.

In die sieben Jahre, die zwischen dem kurzen ersten und dem umfangreichen zweiten Romanteil liegen, fallen dann die Ereignisse, die Kind 44 beschreibt. Dort begegnet dem Leser ein Held, der anfängt nachzudenken und bald nicht mehr als der gläubige Gefolgsmann einer über Leichen gehenden Institution auftritt. Im Laufe der Ermittlungen, die er gegen einen psychopathischen Kindermörder fast auf eigene Faust durchzieht, gerät er deshalb fast folgerichtig zwischen alle Fronten und bringt sich selbst samt seiner jungen Frau in Todesgefahr.

Wenn der zweite Teil von Kolyma dann damit einsetzt, dass im Moskau des Jahres 1956 Abschriften der "Geheimrede" Chruschtschows kursieren und die einstigen Opfer des Systems beginnen, zurückzuschlagen, zählt Demidow trotz der ihn immer stärker plagenden Skrupel unter jene, die um ihr Leben fürchten müssen. In Gestalt von Anisja, die aus dem Lager zurückgekehrt ist, sich nun Frajera nennt und im Moskauer Untergrund gegen all jene kämpft, die einst ihr Lebensglück und das vieler anderer zerstörten, begegnet ihm eine zur kaltherzigen Rachegöttin gewordene Frau, die ihn jetzt dahin schickt, wo sie selbst nur durch den Gedanken an die einstige Vergeltung des Unrechts überleben konnte.

Garniert mit jeder Menge Action - Verfolgungsjagden durch die Kanalisation der sowjetischen Hauptstadt, Häftlingsrevolten auf einem Gefängnisschiff und in einem Lager im ewigen Frost sowie schließlich die brutalen Straßenkämpfe im Budapester Herbst nehmen breiten Raum ein -, macht sich Rob Smith' Roman gemeinsam mit seinem Helden auf in die Welt der Verbannten. Indem er den Priester Lasar aus dem GULAG herausholt und nach Hause bringt, glaubt er seine Verfehlungen sühnen zu können. Doch sein Weg führt noch weit, ehe er mit seiner Frau und den beiden adoptierten Kindern - das größere Mädchen, das den Ersatzvater instinktiv hasst, weil sie ahnt, dass er als Geheimdienstler etwas mit dem Tod ihrer richtigen Eltern zu tun hat, wird von Frajera immer wieder als Mittel für ihr Rachespiel benutzt - endlich ein ruhigeres Leben beginnen kann.

Kolyma benutzt die historischen Ereignisse nicht nur als Kulissen, zwischen denen es eine spannende Geschichte ablaufen lässt. Vor den Augen des Lesers entfaltet sich tatsächlich ein Bild jener Jahre, in denen Leben und Freiheit des Einzelnen übergeordneten Ideen zum Opfer fielen. Vielleicht wäre es manchmal gut gewesen, die nach dem 20. Parteitag einsetzende Abrechnung mit den Tätern von einst nicht gar zu sehr an die arg romantisierte Gestalt der Frajera zu binden und deren Rachemotive ein wenig zu entindividualisieren. Aber das wollen wir einem Roman, der spannend und mitreißend bleibt bis zur letzten Seite, auch nicht unbedingt ankreiden.



© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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