Home
Kurse
Termine
Lektorat/ Korrektorat
Webdesign
Links
Rezensionen
Kontakt
Impressum
www.text-und-web.de
Weiterbildung/ Text-Management/ Design
PALMBAUM
(Heft 1/2000)

Thomas Brussig:
Am kürzeren Ende der Sonnenallee
Berlin 1999, 157 Seiten
ISBN 3-353-01168-4
Eine Jugend im Schatten der Mauer




Da läßt er uns fast ein Jahrfünft warten, und dann bloß schlappe 150 Seiten, war mein erster Gedanke, als ich das neue Buch von Thomas Brussig sah. Enttäuschend, wirklich! Doch weil ich für dieses Gefühl keinen Adressaten fand, ließ ich das schmalbrüstige Ding schweigend verpacken und trug es mit Grimm nach Hause. Wenn ich es langsam lesen würde, dachte ich unterwegs, ganz, ganz langsam, sollte es wohl für drei Tage reichen. Morgen, Übermorgen, Überübermorgen. Doch dann bräche erneut brussiglose Zeit an. Entsetzlich!

Um diesen Frust richtig zu verstehen, muß der Leser wissen, dass ich Helden wie wir, jenen legendären Roman, mit dem der Berliner Autor erst so richtig ins Licht der Öffentlichkeit rückte, nach wie vor für das wichtigste belletristische Werk zum Thema "Wende und Wiedervereinigung" halte. Inzwischen sind dickere Bücher zur deutschen Geschichte des letzten Jahrzehnts und der Jahrzehnte davor geschrieben worden. Und als Mauerfall und Wahnsinnsschrei sich jüngst zum zehnten Male jährten, zeigten viele deutsche Federn, dass, wer glaubt, das Stöffchen ginge aus, gewaltig irrt. Allein einen Bericht wie jenen, den Brussigs Protagonist Klaus Uhltzscht 1995 von Werden, Sein und Vergehen der DDR ablieferte, findet man kein zweites Mal. In keinem anderen Buch erscheint so nachvollziehbar und locker-witzig aufgehoben, was das Leben in einem Staat ausmachte, der aus der Perspektive von unten anders aussah als aus der von oben. Nirgends sonst wird auf so hintergründig-frappante Weise die ideologische Großmannssucht unserer Altvorderen als kleinbürgerliche Attitüde entlarvt, stehen die Klassenkämpfer so ohne allen Mut und Mumm da, klingen die Parolen so hohl, wird die Notwendigkeit des Endes dieser Scheinexistenz in einer Scheinwirklichkeit so transparent wie hier.

Helden wie wir war präzis-museale Erinnerung an den Arbeiter- und Bauernstaat und zugleich dessen zornige Negation. In diesem Sinne führte der Roman auch einen erbitterten Doppelschag gegen zwei die Wende hauptsächlich mittragenden Kräfte: Das "Volk", welches Brussig vor der Berliner Mauer verharren und auf die Erlaubnis warten läßt, in die Geschichte eingreifen zu dürfen, und all jene kritischen Geister, deren noch intaktes Utopieverlangen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Gesicht" hoffte und hinarbeitete. Letzteren setzte der Autor mit der geschickt gewählten Doppelgestalt Jutta Müller/ Christa Wolf ein Denkmal und verabschiedete sich damit von den Helden der Aufbauperiode und deren immer weiter prolongierten Lagerfeuerromantik mit der Frage, wie viele Generationen denn noch auf ihr Recht, gut zu leben, verzichten müßten, damit es den Enkeln einmal besser gehen könne.

Die Antwort muß hier nicht wiederholt werden. So radikal, wie sie ausfiel, ließ sie allerdings erwarten, dass dieser Roman einen endgültigen Schlußstrich ziehen sollte unter das Gehabte und das - auch erzählerische - Interesse des Autors sich fürderhin am Leben im - hoffentlich genauso illusionslos gesehenen - Neuen orientieren würde.

Doch so kann man sich irren. Denn mit Am kürzeren Ende der Sonnenalleee kehrt Thomas Brussig zurück in die Zeit der deutschen Teilung. Erzählt werden Anekdoten und Geschichten aus den Siebzigern. Stories vom Pubertieren in der Deutschen Demokratischen Republik, locker zentriert um eine Gruppe Jugendlicher und die Plätze ihres Heranwachsens in Ostberlin.

Das Buch erzählt auf lakonische, eng bei seinen Figuren bleibende Weise die Geschichte einer Jugend im Schatten der Mauer. "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" läßt es Menschen wohnen, lieben, leiden und sich mit Glück und Geschick durchwursteln, die sich nur in seltenen Momenten als die tatsächlich Zu-kurz-Gekommenen empfinden. Ansonsten aber leben sie ihr eigenes Leben, mit all den Aufregungen, kleinen Siegen und großen Niederlagen, welche Leben an jedem Ort der Welt zu verschenken hat.

Brussig reiht sich damit ein in die immer zahlreicher werdenden Versuche, das eigene Herkommen zu literarisieren. Die Evokation der Vergangenheit dient dabei dazu, sich ein festes Standbein in der Geschichte - einer Geschichte des Alltags sozusagen - zu schaffen. Erzählt wird - wie man das schon von Stephan Krawczyk und Peter Wawerzinek kennt sowie aus einem Großteil der boomenden Autobiographie- und Memoirenliteratur - die DDR von unten, ein Land, wie es wirklich war, jenseits der ihm übergestülpten Parolen und Slogans, diese aber andererseits auch wieder nicht vergessend. Was damit zu beginnen scheint, ist eine neue Art des Heimatromans, ein Wiederaufbau des tatsächlich Gewesenen durch Rückbesinnung auf die Details, die kleinen Dingen. Ein vergangenes Dasein wird da aufgesucht, wo es noch unverformt und unspektakulär sich vollzieht. Jenseits der Haupt- und Staatsaktionen, die nichts repräsentieren als sich selbst und die, nimmt man sie für das Ganze, nur den Blick verstellen auf eine Vergangenheit, von der immer weniger Menschen Kenntnis besitzen und die eines Tages - so ist zu fürchten - als lebendiges Gebilde ganz verschwunden sein wird, verborgen hinter den Etiketten, die jene ihr aufkleben, die dazu am wenigstens das Recht haben, weil sie ja nicht dabei waren.

Dagegen, gegen dieses komplette Verschwinden des Gewesenen, schreibt Thomas Brussig an. Er tut es nicht mit Zorn, sondern milde und gewitzt. Man folgt ihm gern in seine Berliner Straße, weil man sie irgendwie zu kennen vermeint. Und auch die Probleme, mit denen seine Protagonisten sich herumschlagen, sind uns so fremd nicht. Da geht es um Westpakete und Tanzstundenstreß, verbotene Musik und geschönte Statistiken, hirnrissige Abschnittsbevollmächtigte und hinreißende Klassenschönheiten. Von durchorganisierten Wahlen ist die Rede und immer wieder von der Mauer. Des ZENTRALORGANS wird gedacht und die "Dikkatur des Prolejats" auf die Schippe genommen.

Aber es ist nicht das Politische, was Brussigs Gestalten wirklich umtreibt. Sie leben aus anderen Sehnsüchten heraus. Wünschen sich über die Horizonte, die ihnen angeboten werden, hinweg. Geben dem Druck von außen zwar hin und wieder nach, verfolgen im übrigen aber ihre ganz eigenen Wege.

Der Autor erzählt dies alles in locker miteinander in Verbindung stehenden Episoden. Diese schließen sich nicht zum Roman, sondern hinterlassen eher den Eindruck einer Kurzgeschichtensammlung. Es gibt keine Zentralperspektive, sondern das Interesse des Erzählers springt von Figur zu Figur, hängt sich kurz an die Erlebnisse des einen und schwenkt anschließend zurück. Sprachlich hätte die eine oder andere Seite vielleicht noch einmal überarbeitet werden könnnen. Und ein oder zwei Gags gefallen dem Autor offensichtlich so gut, dass er sie ein Stückchen weiter im Buch gleich noch einmal aufwärmt. Aber das wollen wir ihm gerne durchgehen lassen, frei nach der schönen Sentenz, mit welcher das Buch schließt: "Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen."

Das Ende übrigens erlauben wir uns allegorisch zu lesen, auch wenn es gar nicht so gemeint sein sollte. Doch schließlich sind Bücher immer schlauer als ihre Autoren. Und ist es etwa nicht zeichenhaft, wenn ausgerechnet ein Russe einem deutschen Paar aus höchster Not hilft, während die eigenen Landsleute ihren bürokratischen Stiefel weitermachen? Steht da nicht Gorbatschow ante portas, wenn für einen jungen Mann und eine junge Frau, die in den Wehen liegt, aber nicht ins Krankenhaus gefahren werden kann, weil die Straße gesperrt ist für eine sowjetische Delegation, die Staatskarossen anhalten und einer aussteigt, um die Geburt des neuen Lebens in die eigenen Hände zu nehmen?

© 2000 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


Lesen Sie bitte hier meine letzten Rezensionen

Zum Seitenanfang
Zur Startseite