Home
Kurse
Termine
Lektorat/ Korrektorat
Webdesign
Links
Rezensionen
Kontakt
Impressum
www.text-und-web.de
Weiterbildung/ Text-Management/ Design
Die aktuelle Rezension
(November 2006)

Sibylle Berg:
Habe ich dir eigentlich schon erzählt ... Ein Märchen für alle
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, 169 Seiten
ISBN 3-462-03735-8
"Nur weg."




Max und Anna sind bald 14 Jahre alt. Beider Eltern sind geschieden, nun wohnt Max mit seinem Vater zusammen, Anna mit ihrer Mutter. Das ist für keinen von beiden einfach, stellt allerdings nicht ihr einziges Problem dar. Gut immerhin, dass sie in ein und demselben Haus wohnen, auch wenn sie sich zunächst nur vom Sehen kennen. Doch eines Tages findet Max Annas betrunkene Mutter auf der Straße liegend, klingelt bei dem fremden Mädchen und entdeckt plötzlich, wie ähnlich es ihm ist. Von da an könnte alles anders werden.

Doch Max und Anna wohnen leider in einem spröden Land namens DDR. Einem klitzekleinen Teil Europas, der sich vor seinen Nachbarn hinter Stacheldraht versteckt hat, ja, der nicht mal den Freunden im Osten so recht über den Weg traut. Zwar gibt man vor, das Erbe nur der allerbesten Traditionen der Deutschen angetreten zu haben, doch Selbstvertrauen besitzt man leider wenig. Und im Namen einer Idee, an die sie gar nicht glauben, bespitzeln sich die Einwohner des Landes sogar gegenseitig.

Sibylle Bergs neues Buch ist eine Liebesgeschichte. Das lässt schon einmal aufhorchen, denn mit der Liebe hatte diese Autorin, die eher die chaotischen Seiten des Lebens beschreibt, bisher wenig am Hut. Natürlich ließ es sich auch in ihren früheren Büchern nicht vermeiden, dass ab und an Zwischenmenschliches, sprich: Zwischengeschlechtliches statthatte. Aber nach dem Akt war vor dem Akt und wenn beide die Vereinigung überhaupt gesund überlebten -oft musste freilich einer daran glauben -, hatten sie sich hinterher genauso wenig zu sagen wie davor.

Diesmal wird der Liebe Raum und Zeit gegeben. Vielleicht weil sie zwei Menschen trifft, die sich zwar manchmal genauso deprimiert und desillusioniert anhören wie das gewohnte Personal der Autorin, ansonsten aber staunend voreinander stehen und sich der neu eröffnenden Gefühlswelt naiv öffnen. Nein, weder Max noch Anna waren bisher verliebt, und die Irrungen und Wirrungen, die sich schon bald ergeben, werden von ihnen mit allen Sinnen erlitten.

Doch auch zu zweit werden sie nicht glücklicher da, wo sie nun einmal zu leben gezwungen sind. Die Häuser bleiben grau und trist, die Menschen schweigsam und misstrauisch. Die Kleidung ist farblos und öde, das Essen einfallslos und schlecht, die Ideologie verlogen. Und sowieso hat man lediglich die Wahl zwischen Wartburg und Trabant, doch auf beides muss man zehn lange Jahre warten.

Was tun? Verschwinden! Und aus der Liebesgeschichte entwickelt sich ein rasantes Roadmovie. Max und Anna packen ihre Rucksäcke, stellen sich bei Weimar an die Autobahn und schon bald sind sie mit einem polnischen Fernfahrer unterwegs ins Nachbarland. Rumänien ist das Fernziel, von dort vielleicht eine illegale Überfahrt in die Türkei.

Natürlich haben beide, die gern lesen, denn was soll man anderes machen in einem Land, das nicht gerade Entertainment-Weltmeister ist, schreckliche Geschichten im Kopf, und die Flucht entwickelt sich denn zunächst auch einmal ziemlich Hänsel-und-Gretel-mäßig. Der Pole nimmt sie mit zu seiner Frau und das Pärchen erweist sich in schlimme Kinderhandelsgeschichten verstrickt. Dann geht es - nach einer triumphalen Flucht aus den Fängen des Bösen - weiter in die Tschechoslowakei, wo sich Anna leider schon wieder verliebt, diesmal freilich in den Falschen, einen Blender, was sie allerdings erst merkt, als Max schon ohne sie weitergetrampt ist. In Budapest schließlich findet man sich wieder, und von hier ab bleibt man auch vereint, selbst wenn noch ein paar schlimme Abenteuer zu überstehen sind, bis man auf der letzten Seite des Buches tatsächlich versteckt im Innern eines Schiffes liegt, dass vielleicht in die Türkei fährt.

Ein Märchen für alle hat Sibylle Berg ihr neues Buch genannt, und ein Märchen mit glücklichem Ausgang ist es auch. Nicht jedes erzählte Detail kann man glauben. Nicht auf jeder Seite überzeugt der Text. Berg-Freaks werden bestimmt seinen Anfang lieben, Berg-Neulinge vielleicht den Schluss. Kritikaster werden vermerken, dass es der Autorin nicht immer gelingt, aus dem Geist von zwei Personen ihr Redewechselspiel zu inszenieren, die gerade dabei sind, erwachsen zu werden. Manches klingt ja wirklich zu altklug. Und auch das Wörtchen "Kotz!" aus dem Munde eines DDR-Kinds will mich nicht recht überzeugen. Aber ansonsten ist da viel auf diesen Seiten, womit Sibylle Berg bis dato eher geizte. Menschlichkeit und Überlebenswillen. Fantasie und Freundlichkeit. Hoffnung und Liebe. Vielleicht schreibt die geborene Weimarerin von jetzt an nur noch über Kinder? Es hätte bestimmt einen nicht zu unterschätzenden therapeutischen Effekt für sie und ihre Leser. Endlich ein Berg-Text, den man lächelnd verlässt.

© 2006 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


Lesen Sie bitte hier meine letzten Rezensionen



Zum Seitenanfang