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Die aktuelle Rezension
(April 2004)

Roger Willemsen:
Deutschlandreise
Frankfurt/ Main: Eichborn 2002, 207 Seiten
ISBN 3-8218-0718-0
Roger on the road




Wer, bitte, war nochmal Roger Willemsen? Nein, liebe Leserin und lieber Leser, das soll keine Provokation sein, nur ein Einstieg! Denn natürlich weiß ich so gut wie Sie, dass es sich bei dem 1955 geborenen Autor, Literaturwissenschaftler und Fernsehmann um so etwas wie eine Ikone handelt. Ich habe die Augen von Frauen jeglichen Alters - naja, die unter 20jährigen nehmen wir einmal aus - weit werden sehen, wenn ihre Besitzerinnen seinen Namen aussprachen: Roger Willemsen. Nicht Rotscher, um Gottes Willen! Rooger. Mit einem ganz langen, den Mund anmutig rundenden Oooo. Und Willemsssen mit diesem erotischen Nachzischeln am Ende: ... sssen ... Als lägen sie ganz momentan in seinen Armen. Als gehörten sie - und nur sie! - auch genau dort hin. Und als hauchten sie just nichts Geringeres aus als ihren Verstand: Rooger Willemsssen ...

Meine Herren, gegen dieses gelockte Prachtexemplar, das so eloquent wie nonchalant auftritt, den ökologiebewußten, mit Links sympathierenden Bildungsbürger und Jazzliebhaber so ambitioniert zu geben versteht, dass es schon wieder lässig wirkt, gegen diesen gestylten Stilisten von Rang und sanften Ironiker von Berufung anzutreten ist schwer. Und, meine Damen, ich gebe Ihnen ja Recht, natürlich handelt es sich bei Willemsen um eine ERSCHEINUNG.Ich muß allerdings gestehen, dass ich zunächst vorhatte, den Mantel des Schweigens über dieses Phänomen zu breiten. Was schließlich geht uns die weltläufige Existenz eines westlich sozialisierten Melancholikers an? Haben wir nicht genug zu tun mit all jenen inländisch produzierten Lesefrüchten von Goethe bis Gerlach, Bechstein bis Biskupek, Schiller bis Schipanski? So sollte man meinen. Aber dann las ich Willemsens Reisebericht, war nicht unbegeistert von der Art, wie er geschrieben ist, und mußte sogar feststellen, dass sein Autor bei der hier dokumentierten Deutschlandfahrt einer Begegnung mit meinem Heimatland Thüringen keineswegs aus dem Weg gegangen ist. Und so blieb mir nichts weiter üblich, als den Text doch zur Kenntnis zu nehmen.

Aber hören wir doch erst einmal hinein: "Der Osten, das ist zunächst einmal eine andere Tarifzone", hebt Willemsen an. "In der Idylle Naumburgs sind etwa dreißig Prozent der designierten Arbeitnehmer arbeitslos. Wer flexibel ist, hat den Ort verlassen, wer es nicht sein will, profitiert ein wenig vom Tourismus oder bietet seine Arbeitkraft für 500 Euro im Monat im Dienstleistungsgewerbe an. Wer beides nicht kann, besucht das Arbeitsamt, einen modernen, lichtdurchfluteten Bau, mit Trockenblumencollagen an der Wand, Schaubildern der klassischen Berufe wie Altenpflegerin oder Floristin und einer ‚Checkliste für Ihr Beratungsgespräch': Welche Arbeit stelle ich mir vor? Reicht dafür meine schulische Bildung? "

Ein paar Dutzend Kilometer weiter, in Gotha, notiert der Reisende: "Die Fassaden am alten Hauptmarkt sind Stein gewordener Humanismus. Schloss Friedenstein, das mit majestätischer Wucht wie ein Riegel den Platz abschließt, war ein Zentrum der Aufklärung, geadelt von einem langen Besuch Votaires... Jetzt sind weg das letzte Gericht und der Trost und die Aufklärung und die Schande. Auf dem Platz erinnern nur die Autos an das 21. Jahrhundert, aber die Gasthausbesitzerin, die um 20 Uhr ihren Betrieb einstellt, antwortet auf die Frage nach einem Restaurant unmissverständlich:'Da werden Sie um diese Zeit nichts mehr finden. Sind ja nur noch Ausländer da.'"

Nicht schlecht, oder? Um es einmal etwas nonchalant auszudrücken. Natürlich erreicht Willemsen Heine nicht, sein heimliches Vorbild, wer erreicht den überhaupt. (Thomas Rosenlöcher vielleicht?) Aber er kommt ihm doch zuweilen ziemlich nahe. Sammelt Eindruck auf Eindruck und versteht es glänzend, hinter vordergründig flott und heiter dargebotenen Geschichten Tiefe erahnen zu lassen. Etwa wenn der Reisende, bevor er sein müdes Haupt in Ralswiek/ Rügen aufs Kissen legt, noch im Gästebuch seiner Pension blättert und auf den folgenden Eintrag stößt: "Der du die Berge hast begipfelt, die Buben hast bezipfelt und die Mädchen hast gespalten, du mögest dieses Haus erhalten. Dies schrieb dir, liebe Pension, die SPD-Ortsgruppe Pöppinghausen." Ja, das ist schön, wirklich und wahrhaftig, und es wirft nicht nur ein Licht auf die unterzeichnende Ortsgruppe, sondern irgendwie auf die ganze große, alte Volkspartei.

Häufig genug hat man bei Willemsen allerdings auch das Gefühl, er opfere der überzeugenden Pointe, dem stilistischen Glanzlicht, dem scheinbar mit leichter Hand hingeworfenen Aperçu zuviel. Dann wird es etwas unglaubwürdig und man denkt: Weniger wäre mehr gewesen. Dieser Eindruck ist allerdings nicht der das Buch dominierende, und so sei unser Unbehagen hier nur am Rande vermerkt.

Die Fahrt des Autors durch das Deutschland unserer Tage führt ihn in einem kühnen Bogen von Sankt Pauli/ Hamburg über Mölln (Brandanschlag vom 23. 11. 1992) nach Sylt und Rostock (Lichtenhagen!). Von da geht's nach Rügen hinüber, wo die Alleen "wie Tonnengewölbe" über den Köpfen hängen, und anschließend von Stralsund mit dem Zug in die neue Bundeshauptstadt, "ein Bauloch, vom Besten im Westen". Der sich gerade etablierenden Berliner Republik widmet Willemsen ein paar schöne Gedanken über die Mühsal des Zusammenkommens von Deutschen/Ost und Deutschen/West - unter anderen den, dass in den östlichen Ferienheimen nach dem Einbruch der Brüder und Schwestern von Drüben der Klopapierverbrauch um das 20fache gestiegen sei -, ehe er weiterdüst nach Frankfurt an der Oder, um dort die Vorentscheidung zur Miss-Germany-Wahl zu besuchen und einen neugierigen Blick über die Oder-Neiße-Grenze zu wagen. Die nächsten Stationen heißen Magdeburg - eine Stadt tarnt sich als Einkaufsmeile! -, Halle, Eisleben und schließlich die oben schon erwähnten Naumburg und Gotha. Dann geht es wieder raus aus den neuen Ländern und zurück ins seit Jahrzehnten Bekannte.

Wir wollen hier nicht noch ausführlicher werden und gerne zugeben, dass uns an diesem Reisebericht vor allem interessierte, in welcher Stimmung sein Verfasser unser Neufünfland durchpflügte und was er ans Licht brachte dabei. Aber wenn man lektüremäßig auch nach dem Wechsel aus dem Thüringischen ins Hessische am Ball bleibt - gut die Hälfte des Buches liegt ja noch vor einem -, mitkommt nach Hannover und Moers, Bonn, Honnef und Remagen, Trier und Saarbrücken, Frankfurt am Main, Offenbach und Mannheim, Heidelberg, Konstanz und in eine ganze Reihe bayerischer Dörfer und Städte, um schließlich und endlich wieder nach Norden einzuschwenken und den unregelmäßigen Reisekreis durch die deutsche Gegenwart in der Wilhelmshavener Ecke zu vollenden, dann drängt sich leise aber unanweisbar der Gedanke auf: In den Gegenden westlich der Elbe ist mehr Wahnsinn zu Hause. Oder anders gesagt: Ist Willemsen noch bemüht, den lernwilligen Novizen im deutschen Staatsgebiet Ost ihre - häufig anfängerhaften - Schrullen zu verzeihen, so zerrt er grob satirisch ans Licht, was ihm an jenen Gegenden nicht gefällt, die er schon immer problemlos bereisen durfte.

Das könnte uns - die wir von hier sind - nun eigentlich egal ein. Ein überparteilich akzeptierter Gutmensch sollte immer das Recht haben, zu kritisieren, was ihm an seinem Land und dessen Bewohnern nicht gefällt. Aber wir sind während der Lektüre den Verdacht nicht losgeworden, hier mache einer sich und seine Ansichten allzu oft zum Maß der ihm begegnenden Dinge. Und damit ist er nicht mehr frei diesen gegenüber, sieht sie nicht unvoreingenommen, sondern letztlich so, wie er sie sehen möchte.

Deutschlandreise lohnt sich zu lesen. Es ist ein gut geschriebener Text voller Melancholie, die manchmal an Verzweiflung grenzt, nie aber in diese umschlägt. Willemsen liebt das Land, welches er bereist, und er nimmt es auf mit allen Sinnen. Manchmal will er sicherlich zuviel. Aber was er will, will er aus guten Gründen.

© 2004 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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