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(Heft 3/1995)

Reiner Kunze:
Wo Freiheit ist...
Gespräche 1977 - 1993
Frankfurt/ Main 1994, 239 Seiten
ISBN 3-10-042015-2
"Nichts ist unbequemer als die Freiheit..."




Nach dem Tagebuch Am Sonnenhang (1993), nicht zuletzt einem aus der Aktualität des Jahres 1992 beständig aus- und zurückblendenden Bilanzierungswerk, legt Reiner Kunze mit Wo Freiheit ist... eine Sammlung von dreißig Gesprächen vor, die - chronologisch geordnet - siebzehn Jahre seines Lebens schlaglichtartig erhellen. Die von Autor und Verlag zwecks Tilgung von Redundanzen vorsichtig überarbeiteten Dialoge geben unaufdringlich Auskunft über die Vita Kunzes, erhellen sein Dichtungsverständnis und kennzeichnen ihn als einen wachen Beobachter der Zeitgeschichte.

Was beim Lesen sofort - und angenehm - auffällt, sind die Beherrschtheit des Befragten, der Ernst seinen jeweiligen Gesprächspartnern gegenüber, die Kontinuität innerhalb der Aussagen. Nie hat man den Eindruck, hier nutze einer die Gunst der Stunde, um sich in Szene zu setzen, Spektakuläres zu verlautbaren, Unüberlegtes zu lancieren. Selbst erhöhtes Medieninteresse - wie im Zusammenhang mit der Übersiedlung seiner Familie in die Bundesrepublik 1977 oder im Wendejahr 1989 - wird von Reiner Kunze nicht überschätzt noch gar mißbraucht. Insgesamt stellt sich dadurch, alle Einzelaussagen umgreifend, das Bild einer Persönlichkeit her, die aus festen Grundüberzeugungen lebt. Unbeirrbarkeit - nicht Starrsinn -, Einfachheit - nicht Puritanismus - und erfahrene wie gewährte Mitmenschlichkeit prägen das Dasein eines ethischen Rigoristen, dem sowohl Einmaligkeit wie ständige Gefährdung des Lebens schmerzhaft bewußt sind. Allerdings auch die Tatsache, daß Leben zunächst und vor allem individuelles Leben ist, welches durch Kollektivierung, durch Unterordnung unter Zwecke, die es nicht selbst und frei setzt, an Raum und Qualität verliert.

Hochschätzung von Freiheit ist das bereits im Titel anklingende Leitmotiv des Bandes. Gerade die Gespräche aus den letzten Jahren machen aber deutlich, daß die Freiheit, welche Kunze meint und für begehrenswert hält wie Gesundheit und Liebe, nicht zu haben ist ohne Verantwortung und Risiko. Letztendlich besteht sie in permanentem Sich - entscheiden - Müssen. Wo Freiheit verwaltet wird von Institutionen, Parteien und Ideologien - ist sie nicht existent. Und wo sie existent ist - ist sie nicht bequem.

Dieses Credo leitet nicht nur Denken und Handeln des homo politicus Reiner Kunze, es ist auch in allen Fragen und Problemen auffindbar, die sein Metier betreffen. Sicher spielt hier der biographische Kontext eine Rolle. Nicht unerheblich sensibilisiert wurde der Autor durch die Pressionen, denen er sich über Jahrzehnte seines Lebens von Seiten eines totalitären Regimes ausgesetzt sah. Doch der Impuls, Literatur sämtlichen ihr nicht eigenen Zwecksetzungen zu entziehen, erlischt auch nicht nach seinem Wechsel in den Rahmen eines gesellschaftlichen Bezugssystems von weitaus größerer geistiger Toleranz. Schlossen für den in der DDR Lebenden Ideologie und literarische Qualität einander weitgehend aus, wobei erstere fatalerweise darüber entschied, ob einer mit seinem Werk an die Öffentlichkeit konnte oder nicht, wird für den Übergesiedelten nun der Marktwert zum Regulator von Präsenz.

Kunzes Literaturbegriff - ein Gedicht ist "ein Ding... wie ein Stück Brot - nur daß es eine andere Art Hunger stillt" - vermag diese neue Erfahrung nicht zu tangieren. Auch seine bedachtsame Arbeitsweise gibt er keineswegs auf. Und Melancholie, Sehnsucht gar nach einem Zurück zu Zuständen, von denen schon das erste Gespräch ohne einen Moment des Zögerns feststellt, daß "von daher... kein neuer Anfang für die Menschheit" kommt, ist nicht nur aufgrund seiner Erlebnisse mit den Literaturverwaltern der DDR undenkbar, auch die Gegenwart legt anderes nahe: "Wenn ich hier...von meinen Büchern nicht leben kann, so kann ich doch einen Verlag für sie finden." Und Leser natürlich, die sich - auch wenn sie nicht nach Hunderttausenden zählen - der "schwächenden Gefühle" nicht schämen, welche Kunstwerke, wie Kunze in Umkehrung eines Wortes des Bakunin-Schülers Netschajew betont, am Leben erhalten sollen - "...denn was schwächen sie denn, sie schwächen die Fähigkeit, brutal zu sein, die Fähigkeit, über den Menschen hinweg zu handeln."

Allein wie tun sie das? Auf welche Weise ist dies Wollen ihnen ablesbar? Auch hier ist des Dichters Antwort geprägt von seinem Mißtrauen einer freie Assoziationen beschneidenden Methode gegenüber, die - Literatur überschätzend und, wenn sie pädagogisch wird, von ihr wegerziehend - in der Frage kulminiert: "Was wollte uns der Dichter sagen?" Die Reduzierung eines komplexen, sich an alle Sinne richtenden Gebildes auf eine vermittelbare, griffige Sentenz macht es überflüssig: "Hätte der Dichter das sagen wollen,... hätte er es gesagt und kein Gedicht geschrieben." Man suche also nicht nach einer Botschaft jenseits des Mediums, sondern nehme das jeweilige Werk selbst als die, anders nicht formulierbare, Botschaft seines Autors an. Das vorausgesetzt, wird auch der Begriff des "Verstehens" von Kunstwerken problematisch. Für Reiner Kunze liegt der damit verbundene Vorgang jenseits der Ebene des gedanklichen Erfassens. An einer Reihe einprägsamer Beispiele aus dem eigenen Werk und Gedichten tschechischer Autoren, die er ins Deutsche übersetzt hat, macht er deutlich, was für ihn ein Gedicht ist, wie es zustandekommt und welche Wirkungen es - bestenfalls - auszulösen vermag.

In diesem Punkt übrigens trifft sich das gesprächsweise Geäußerte mit Positionen, die Kunze bereits im Nachwort seines 1986er Gedichtbandes eines jeden einziges leben bezieht. Nahezu zeitgleich mit Wo Freiheit ist... legte der Fischer Taschenbuch Verlag in seiner Lyrikreihe jetzt eine schöne, preiswerte Neuausgabe dieser Sammlung vor. Hier kann man ihnen begegnen, jenen "druckseite(n) mit viel luft", die Kunze nahezu unverwechselbar machen. Und wenn der Leser auch nicht immer den Bildeinfall - die "absichtserklärung des gedichts, geschrieben zu werden" - nachvollziehen kann, wird er doch schnell bemerken, daß bei diesem Autor Leben und Dichtung einen symbiotischen Pakt eingegangen sind. Nahezu alle Gedichte wurzeln in Alltagsbeobachtungen, Erlebnissen auf Reisen, empfangenen Nachrichten. Bereits im Geschautem und Gehörtem aber verbirgt sich eine zweite Wirklichkeit, die mittels der metaphorischen Qualitäten der Sprache jenen Gelegenheiten abgerungen wird. Das ist die eigentliche Arbeit des Künstlers: Die Verbindung zweier Sachverhalte - eines vitalen und eines existentiellen - im Wort. Bei Kunze führt sie zu Gebilden, denen man ihre häufig lange Entstehungszeit nicht mehr anmerkt - eines jeden einziges leben bündelt, zu neun Gruppen geordnet, 78 Texte aus vier Jahren, Texte von oft nicht mehr als fünf oder sechs Zeilen Umfang, die trotz - oder gerade wegen - dieser Verknappung Intensität ausstrahlen.

Thematisch ist der heute Zweiundsechzigjährige sich in diesem Band fast ebenso treu geblieben wie in der Wahl seiner artistischen Mittel. Erneut wird die Verantwortung des einzelnen für sein Leben beschworen, vielleicht weniger polemisch, vielleicht mit einer Spur mehr Trauer angesichts einer Umwelt, die beginnt, sich für die zahllosen Mißhandlungen zu rächen: "Wir haben die erde gekränkt, sie nimmt/ ihre wunder zurück/ Wir, der wunder/ eines". Auch vom Tod - "Wir wissen nicht, wann/ er uns kündigen wird und/ wem zuerst..." - war in früheren Lyriksammlungen des Autors die Rede nicht so oft. Insgesamt aber beharrt der behutsam, leise und ohne jeden Willen zur Überredung seines Gegenübers in diesen Gedichten Sprechende auf der Widerstandsfähigkeit des Lebendigen. Hoffnung tönt nicht laut und pathetisch, aber sie tönt. Gemäß der von Albert Camus entlehnten Lebensmaxime Reiner Kunzes: "Es herrscht das Absurde, und die Liebe errettet davor."

© 1995 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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