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(Heft 1/1996)

Lutz Rathenow:
Sisyphos. Erzählungen
Berlin 1995, 160 Seiten
ISBN 3-8270-0135-8
Die Schrecken des Alltags und der Geschichte




Lutz Rathenows Texte konfrontieren den Leser mit dem Alltäglichen. Unspektakulär, oft sogar banal scheinen die Vorfälle, die sie in den Mittelpunkt rücken. Und doch haben die meisten der 27 Kurz- und Kürzestgeschichten, die des Autors neuer Band Sisyphos versammelt, etwas Unabgeschlossenes. Wollen sich nicht runden, in keine Pointe umschlagen. Beunruhigen über ihr Ende hinaus, leise, aber nachhaltig. In der Regel jedenfalls.

Denn Sisyphos enthält neben Erzählungen, die - wie mir scheint -mehr protokollieren denn erfinden und aus dem Realismus des nachvollziehbaren Details ihre Stärke gewinnen, auch eine Anzahl parabelhaft auf unschwer erkennbare Realitäten verweisender Texte. Mit diesen stellt Rathenow sein Talent für das Komische, ja Absurde unter Beweis. Bis auf ein, zwei Ausnahmen freilich haben sie mich weit weniger überzeugt als die kargen Zustandsbeschreibungen einer Welt, in der Kälte und Gefühllosigkeit Barrieren zwischen Menschen errichten, die dennoch nicht aufhören, nach Geborgenheit zu suchen.

Lieblos leben, eine der herausragenden Geschichten des Bandes, bringt bereits mit ihrer Überschrift auf den Punkt, was Lutz Rathenows Prosa insgesamt konstatiert - und wohl auch beklagt: Das Verschwinden des Interesses am anderen, spürbar werdend an den Nachlässigkeiten im Umgang miteinander.In welcher Form sich Nähe deshalb auch immer inkarnieren könnte - als Nachbarschaft (Der Auszug), Verwandtschaft (Heiligabend) oder Partnerbeziehung (Alles Männer oder was/ Vier Liebesgeschichten) -, zustande kommt sie nicht. Wer sich in Rathenows Welt dem anderen öffnet, wird enttäuscht, zurückgestoßen, verletzt. Erfährt die Isolation, aus der er auszubrechen vorhatte, als den frustrierenden Normalfall. Hat sich darein zu schicken, oder ist zum Untergang verurteilt.

Hier und da bilden Kinder den Gegenpol zur Eisfront, die das Erwachsenenleben markiert (Das Erwachsenwerden). Doch gerade Kinder müssen auch besonders grausam unter den Gedanken- und Herzlosigkeiten ihrer Eltern leiden (Gegen Mittag), deren Umgang sie nachahmen, ohne zu ahnen, was sie jenseits der Sphäre des unschuldigen Spiels erwartet.

Von großem Interesse in diesem Zusammenhang ist die Erzählung Der Hampelmann. Weitaus sensibler und psychologisch genauer als in den Untertanenmentalität und kleinbürgerlichen Abschottungswahn zu DDR-Zeiten satirisch übertreibenden Geschichten Historie und Herr Leibling wird hier, per Reminiszenz an ein Kindheitserlebnis, dem nachgespürt, was Menschen über Menschen Gewalt verleihen kann. Der seine Schwester mittels einer dämonisierten Spielfigur einschüchternde und erpressende Junge sieht sich bereits als Kind in der Lage derjenigen, die andere mit Hilfe eines ideologischen Fetischs zu eigenem Nutzen beherrschen.

Womit wir bei einer weiteren Dimension der Texte wären, die im übrigen nicht alle neueren oder neuesten Datums sind. Daß ein erheblicher Teil von ihnen im östlichen Deutschland vor 1989 spielt, dürfte mit dem Zeitpunkt ihrer Niederschrift allerdings wenig zu tun haben. Denn wenn ein Erzähler in die Kindheit ausschweift - und Rathenow tut das so authentisch und intensiv, daß der Verdacht naheliegt, er habe in den dementsprechenden Geschichten weitgehend eigenes Erleben zum Erzählstoff gemacht -, so kommt er um deren Orte nicht herum. Weder in geographischer, noch in historisch-politischer Hinsicht. Er braucht das Klima, braucht die Vorbilder, braucht die Denk- und Verhaltensmuster, die Kinder anzogen und abstießen, ebenso wie die Landschaften, in denen sie heranwuchsen.

Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, welches damit ins Spiel kommt, gerät Lutz Rathenow - und das halte ich für eine sowohl aus dem Stoff wie dem Stil der Texte herauswachsende Qualität - nun aber keineswegs zu einem der starren Abhängigkeit des einen vom anderen. Weder wird uns ein Abstraktum präsentiert, daß den Rahmen für die Entfaltungsmöglichkeiten von Individuen absteckt, noch Personen, deren Willen zur Macht so stark ist, daß sich die Umwelt ihnen zu beugen hat. Was Rathenows scheinbar im Privaten verharrende Texte stattdessen nahelegen, ist ein Verständnis des Gesellschaftlichen als Summe aller darin verwickelten individuellen Lebensentwürfe und -praktiken. Auf diese Weise sind menschliche Defizite sowohl Ursachen wie auch Resultate von gesellschaftlichen Defiziten, verstärken die einen die anderen und umgekehrt.

Verständlich ist, daß sich bei solcherart Sicht ein Bild der DDR-Verhältnisse herstellt, das nicht so recht passen will zur "kommoden Diktatur" des Günter Grass. In letztere gehört am ehesten eine Figur Rathenows, die Herr Breugel heißt, nie Fragen stellt, sondern andere fragen läßt, und solange überlegt, auf welche Weise sie an die Tür ihres Vorgesetzten klopfen soll, bis das Unternehmen ängstlich abgebrochen wird. Kurz: Eine Gestalt bar jedes Funkens von Individualität, manipulier- und verführbar in Systemen, welche dem Denken das Gehorchen vorziehen, dem Einmischen das Stillhalten, dem Protest die Denunziation. Rathenow hat hier dem Prototyp des bieder Angepaßten ein Denkmal gesetzt, an dem überdeutlich wird, wieviel Verleugnung eigener Wünsche, welche Absenz von gesundem Verstand und Selbstbewußtsein vonnöten war, um unauffällig sein Leben fristen zu können in Verhältnissen, die man durch den Verzicht auf Widerstand immer aufs neue selbst mit produzierte.

Daß der kritische Einspruch des offene Didaktik meidenden Moralisten Lutz Rathenow, für den das Ganze steht und fällt mit der tätigen Mitverantwortlichkeit des einzelnen, in seinen jüngsten Arbeiten nicht aufgegeben wurde, dafür stehen Texte wie der titelgebende oder Töten lernen. Sie wirken freilich - verglichen mit anderen - verhältnismäßig unkonturiert und tastend. Auch Rathenow - so scheint es - hat seine Position innerhalb veränderter Bedingungen noch nicht ganz gefunden. Da er aber Sisyphos, den unablässig Anlauf Nehmenden, zur Wappenfigur seiner aktuellen Erzählungen gemacht hat, darf man wohl hoffen. Auch auf ein sorgfältigeres Umgehen seitens des Verlages mit seinen nächsten Geschichten. Denn wenn eines die Lektüre des vorliegenden Bandes zu einem ärgerlichen Unternehmen gemacht hat, dann war es die Unmenge von Druckfehlern, die er enthielt.

© 1996 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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