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Die aktuelle Rezension
(November 2008)

Leonardo Padura:
Der Nebel von gestern
Zürich: Unionsverlag 2008, 364 Seiten
ISBN 978-3-293-00388-0
"... die Freundschaft, die Erinnerung und ein paar Bücher"




Mario Conde, Leonardo Paduras eigenwilliger Polizist aus dem Havanna-Quartett (1991 bis 1998, deutsch 2003 bis 2005) hat den Dienst quittiert und sich "mit Leib und Seele dem launischen Geschäft des An- und Verkaufs alter Bücher verschrieben". 13 Jahre ist sein letzter Fall inzwischen her. Doch Conde hat nichts von seinem Spürsinn und der Intuition verloren, die ihn einst so erfolgreich sein ließen. Als er deshalb in einer sagenhaft kostbaren Bibliothek, deren Schätze versprechen, ihn auf einen Schlag reich zu machen, auf einen Zeitschriftenartikel mit dem Porträt der Bolero-Sängerin Violeta del Río stößt, kann er nicht anders, als dem Schicksal jener "Königin der Nacht" genannten faszinierenden Schönheit nachzuspüren.

Paduras achter Roman bewegt sich durch das Havanna kurz nach der Jahrtausendwende, in dem sich die Krisensymptome, die seine vorherigen Bücher hellwach registrierten, noch verschärft haben. Mangel ist zum Dauerzustand geworden. Kultur gilt nichts mehr und wird verscherbelt. Hunger führt dazu, dass soziale Beziehungen auseinanderbrechen und Dinge, die früher als Reliquien galten, plötzlich nichts mehr sind denn Waren. Wer hier die Augen offenhält und skrupellos die Notlagen auch der einst Betuchteren auszunützen versteht, schwimmt obenauf in jeder Beziehung.

Doch Conde wäre nicht Conde, wenn das sein Ziel wäre. Er denkt nicht daran, das in die Jahre gekommene Geschwisterpaar Ferrero, welches zu Hütern einer Bibliothek eingesetzt ist, deren Besitzer das Land vor Jahrzehnten verlassen haben, unter Ausnutzung seiner Kenntnisse zu hintergehen. Im Gegenteil: Er macht den beiden anständige Preise und hält auch nicht damit hintern Berg, dass er viele der seltenen Folianten - teils Jahrhunderte alt und begehrt von vermögenden Sammlern überall auf dem Globus - für kein Geld der Welt aus seinem Besitz geben würde. Freilich sieht er sofort das Misstrauen neben dem Hunger in ihren Augen. Auf wen ist schon Verlass, wenn alle darben? Und deshalb wenden sich die beiden große Not Leidenden hinter seinem Rücken noch an andere Interessenten, um den Preis zu treiben.

Eines Tages dann liegt Dionisio Ferrero tot inmitten all der bibliophilen Kostbarkeiten. Er hat es offensichtlich übertrieben. Conde aber bekommt Ärger mit seinen früheren Kollegen, die nicht ungern über den Mann triumphieren würden, der ihnen einst so maßlos überlegen war. Und in der Tat weist nicht nur ein Indiz auf ihn und seinen Partner hin, worauf nichts hilft, als selbst wieder zu ermitteln.

Dass Leonardo Paduras sympathischer Ex-Polizist, der sich am wohlsten fühlt, wenn er sein schnell verdientes Geld als Antiquar in opulente Festessen mit der Schar seiner vielen Freunde stecken kann, am Ende des Buchs sowohl das 40 Jahre zurückliegende Verbrechen aufklärt als auch den Mörder Dionisio Ferreros überführt, versteht sich fast von selbst. Und die über den Roman verstreuten Hinweise - Briefe einer zunächst Unbekannten, deren Identität sich dann zunehmend lüftet - lassen auch für den mitdenkenden Leser die Nebel von gestern nicht so dicht sein, dass ihn nicht schon bald eine Ahnung beschliche. Wir wollen dennoch hier das Lesevergnügen nicht schmälern, indem wir das Ende verraten. Trotzdem darf man die herausragenden Qualitäten dieses Textes nicht nur in seinem kriminalistischen Plot suchen.

Denn es ist die Konfrontation von Gegenwart und Vergangenheit, die das Faszinierende an Paduras Roman ausmacht. Wie hier mit allen Sinnen ins Gestern eingedrungen wird, eine Epoche der Größe und gleichzeitigen Dekadenz wiederaufersteht im Angesicht der Trostlosigkeit und Erbärmlichkeit des Jetzt - das ist großartig und literarisch meisterhaft. Natürlich bedient sich der Autor der literarischen Hilfestellungen, die ihm große Kollegen über die Zeiten hinweg geben - Hemingway, Capote, Salinger und andere tauchen auf und werden dankbar in Anspruch genommen, ganz zu schweigen von jenen zahlreichen Listen seltener Bücher über die Karabikinsel von deren ersten Besiedlung bis zur Gegenwart, die wie fremde Liedzeilen in den Text eingelassen sind. Die Atmosphäre der späten Fünfziger , wie sie Mario Conde entgegenkommt aus den Sätzen derjenigen Zeitzeugen, die er ausfindig macht und befragt, transparent zu machen für heutige Leser, ist freilich Leonardo Paduras ganz eigene Leistung.

Der Roman hat übrigens, wie die Schallplatte der Violeta del Río, die Conde sich besorgt und deren Klang er wie im Rausch verfällt - es ist die einzige existierende Aufnahme von der Stimme der Sängerin -, eine A- und eine B-Seite. Thematisiert jene das Vergessen und Versinken im Vergangenen, beruft sich diese auf die Macht und die Kraft der Erinnerung. Und tatsächlich: Liest man Padura, ist man mittendrin in einer untergegangenen Welt, die in den Köpfen weiterlebt.



© 2008 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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