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Stefan Kiesbye:
Nebenan ein Mädchen
Frankfurt/ Main: Jens Seeling Verlag 2008,
111 Seiten
ISBN 978-3-938973-09-7
Wir wolln doch nur spielen




Moritz, Thomas, Johannes, Dieter, Ralf: die Dachse. Reihenhäuser, ein Schlachthof, eine Gummi- und eine Süßwarenfabrik, ein Fußballplatz, eine Eisdiele. Santana, Kate Bush, die Dubliners und Barclay James Harvest: die Siebziger. Irgendwo abseits der Metropolen, Esge, Vorort der Kleinstadt Wedersen, Niedersachsen. Herr und Frau Albers, Herr und Frau Klemme, Herr Henne, die dicke Frieda, Anna Telling, Herr Steinhoff, der Schrottplatzbesitzer, und Karen, die Schwester des Ich-Erzählers: so heißen die Menschen hier, nichts Besonderes. Bis auf ein Mädchen, das zwölf Jahre alt ist und von dem niemand wissen darf.

Nebenan ein Mädchen baut von der ersten Seite an eine geradezu unheimliche Atmosphäre auf. Da berichtet ein Minderjähriger von seinem und seiner Clique Leben während eines Provinzsommers. Er verschweigt nichts - nicht die intimen Berührungen der Mutter in der Badewanne, nicht die Sexspiele mit der großen Schwester, nicht die Gewalt, die er mal erfährt, mal selbst ausübt, nicht die gefühllosen Affären und Händel zwischen den Erwachsenen, nicht die Unruhe des eigenen Körpers, dessen Wandel er machtlos gegenübersteht. Alles wird gebeichtet wie in einem Tagebuch. In ruhig voranschreitendem Stil, kurzen Kapiteln mit wenig poetischen Überschriften, voller Lakonie und den Leser immer wieder verblüffend ob der vielen Ungeheuerlichkeiten, die die monotone Abfolge der Tage dieses Jungen grundieren wie ein Schicksalston, der Schlimmes ankündigt.

Normalität - was ist das? Dass Kinder behütet aufwachsen, lernen, was gut und was böse ist, ausreichend zu essen haben und nachts keine Albträume, Zukunft nichts Schreckeneinflößendes besitzt und Gegenwart gern gelebt wird. Von dieser Art Normalität sind die Dachse freilich weit entfernt. Sie müssen auf der Hut sein vor den Füchsen, einer rivalisierenden Bande älterer Jungen, die auf Mopeds durch die Gegend rasen und die Überlegenheit ihrer Körperkraft gern brutal demonstrieren. Sie müssen sich wehren lernen mit denselben Mitteln, mit denen man sie angreift. Sie müssen unerbittlich sein und verschwiegen gegenüber den Eltern, die alle miteinander unter einer Decke stecken und sich regelmäßig in der protzigen Sauna des reichsten Paars zu Orgien versammeln. Sie dürfen niemandem trauen, auch nicht dem ersten Mädchen, das sie lieben, denn am nächsten Tag könnte es sie bereits verraten haben.

Stefan Kiesbye, der seinen 2004 zuerst in den USA erschienenen Roman Next Door Lived A Girl für den Frankfurter Jens Seeling Verlag selbst ins Deutsche übertragen hat, ist es auf gerade einmal 111 Seiten - von denen keine einzige zuviel ist - gelungen, das atemberaubende Portrait einer Gesellschaft zu zeichnen, in der die Verrohungen des Weltkriegs noch nachwirken. Gern demonstrieren die "Streber" Moritz und Thomas ihr Überlegenheitsgefühl, denn eines Tages werden sie aus ihrer tumben Umgebung ans St.-Franziskus-Gymnasium wechseln und große Karrieren in Angriff nehmen. Doch solange sie noch in ihrer Vorstadthölle leben, ist es geboten, sich den hier herrschenden Verhältnissen anzupassen. Also hält man für den Fall der Fälle ein Bolzenschussgerät bereit und bricht im nahen Wald einen noch nicht entdeckten Wehrmachtsbunker auf, um auf alles vorbereitet zu sein.

Nebenan ein Mädchen endet mit einer Katastrophe und einer Flucht, die zunächst in den Westteil des geteilten Berlin führt. Wer den kleinen Roman genau liest - und er hat es verdient, ganz genau gelesen zu werden - für den verdichten sich zum Ende hin all die Signale, die schon von Beginn an da waren. So wie im Kinderspiel "Stürzen und Verbrennen" alles erlaubt ist, um die anderen von ihren Fahrrädern herunterzustoßen, gibt es auch in den Spielen am Übergang zum Erwachsenenalter keine moralischen Hemmungen, bis zum Äußersten zu gehen, zumal es von der Umwelt nicht anders vorgelebt wird. Selbst als die Bande eines Tages vor einem Kind steht, dass über mehr als ein Jahrzehnt wie ein Tier gefangengehalten wurde, setzt man die Quälerei dieses allein noch in seinen animalischen Funktionen intakten Wesens nur auf andere Weise fort.



© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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