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Kazuo Ishiguro:
Alles, was wir geben mussten
München: Karl Blessing Verlag 2005
349 Seiten
ISBN 389667-233-9
Klone bleiben kinderlos




Auf den ersten Blick scheint Kazuo Ishiguros neuer Roman Alles, was wir geben mussten ein Buch über die Adoleszenz zu sein. Berichtet wird von einer Gruppe von Heranwachsenden, die in einer Art Internat von mehr oder weniger strengem Erziehungspersonal auf ihr Leben vorbereitet werden. Von Ungerechtigkeiten ist die Rede, kleinen Eifersüchteleien und großen Sehnsüchten. Zwei Mädchen und einen Jungen lernt der Leser dabei näher kennen. Kathy H. fungiert als Ich-Erzählerin, Ruth und Tommy heißen ihre engsten Freunde.

Doch viele Dinge sind von Beginn an merkwürdig in der idyllisch auf dem Land gelegenen Schulenklave. Niemals besuchen Eltern ihre Sprösslinge, und nie fahren die übers Wochenende nach Hause. Von keinem der Kinder erfährt man seinen Nachnamen. Und seltsame Rituale bestimmen den Alltag. Besonders wichtig scheint es zu sein, seine künstlerische Kreativität nicht verkümmern zu lassen. Denn in regelmäßigen Abständen erscheint eine geheimnisvolle Frau in grauem Kostüm. Man nennt sie Madame, und extra für sie wird eine Ausstellung der Werke arrangiert, aus der sie sich dann die besten Stücke aussucht, um sie mitzunehmen in eine Galerie da draußen.

Gleichzeitig ist für die Jungen und Mädchen ziemlich klar, welche Zukunft auf sie wartet. Spender und Betreuer sind die beiden Begriffe, die in Bezug auf das Kommende am häufigsten gebraucht werden. Und keines der Kinder erschrickt offensichtlich, wenn es in diesen Kategorien denkt. Zu weit ist das alles noch entfernt, zu wichtig sind die alle Aufmerksamkeit fordernden Irrungen und Wirrungen des Heute. Und wenn eine aus der Garde der - mal mehr, mal weniger beliebten - Aufsichtspersonen zu viel von ihrem Wissen über das Schicksal der ihr Anvertrauten preisgibt, ist sie bei nächster Gelegenheit aus der pädagogischen Einsiedelei verschwunden.

Selten kündigt sich Horror in einem Buch so leise an wie hier. Wenn der Leser längst weiß, um welche Spezies es sich bei den pubertierenden Kindern handelt, spielen diese noch immer ihre Spiele und verweigern sich so lange wie möglich der einzigen Realität, die sie besitzen. Aber die Zeichen, dass sie, die von elementaren menschlichen Begierden und Bedürfnissen geplagt werden wie alle anderen, eben nicht so sind wie die, deren Kultur sie eingetrichtert bekommen, deren Zeitungen sie lesen und Filme sie sehen, mehren sich, bis sie sich schließlich selbst als die Ersatzteillager für Glieder und Organe wahrnehmen, als die sie von vornherein gedacht waren.

Alles, was wir geben mussten endet nicht versöhnlich. Am Ende des Romans lebt nur seine Erzählerin noch. Ihr Rückblick in eine Epoche, da geklonte Lebewesen mit Bildung und Geschmack ausgerüstet wurden, bevor man sie ihrem einzigen Existenzzweck zuführte, ist zur Erzählzeit bereits nostalgisch. Weder existiert das Landgut Hailsham mehr, noch jene quasi-humanistische Haltung, mit welcher den ersten Klonen einst vorgegaukelt wurde, sie seien den Menschen in allen Rechten und Pflichten gleichgestellt. Als sich Kathy H., nachdem sie ihre Freundin Ruth und ihren Geliebten Tommy bis zum Ende begleitet hat, selbst zur ersten Spende entschließt, begegnet man ihrer Art ausschließlich noch unter Nützlichkeitsgesichtspunkten.

Letzten Endes erschöpft sich Ishiguros Roman, der eine atemlose Spannung aufbaut, freilich nicht in bloßer Wissenschaftskritik, sondern stößt in eine noch tiefere Dimension vor. Da geht es dann, jenseits von Mensch und Klon, in der Tat um das Rätsel der Existenz von beiden. Denn wo der Klon auf die für ihn vorgesehene Bahn geschickt wird und keine Möglichkeit hat, von ihr abzuweichen, wie könnte der Mensch auf seinem langen Marsch in den Tod behaupten, frei zu sein? Sind sie nicht beide nur unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Verhängnisses? Und warum dann, wenn der Weg sowieso vorgezeichnet ist, all der Aufwand an Sorge, Bildung und Dekor? All das Nachdenken über Auswege und Aufschübe?

All jene Geschichten, Mytho- und Ideologien, mit denen man sich doch allein hinter das grelle Licht des Nichts führt? Und wozu Liebe, wenn durch sie der Tod auch nicht verhindert werden kann? Barbara Schaden hat den Roman in einer schlichten, unprätenziösen Sprache ins Deutsche übertragen. Damit ist sie seiner intensiven Wirkung, deren Ursache mehr zwischen den Zeilen zu suchen ist als auf der Textoberfläche, mit Sicherheit gerecht geworden. Den ursprünglichen Titel freilich hätten sie und der Verlag beibehalten sollen. Der lautet Never let me go und bezieht sich auf einen Song der (wahrscheinlich fiktiven) Folksängerin Judy Bridgewater, von der Kathy H. eine Kassette besitzt, die einen ihrer größten Schätze darstellt. In unbeobachteten Momenten im Internat zu Hailsham zieht sie sich mit dieser Musik zurück, nimmt ein Kissen in den Arm und stellt sich vor, sie wäre in der Lage, ein Kind zu bekommen, um es durch alle Fährnisse des Lebens hindurch zu tragen. Doch Klone bleiben kinderlos.



© 2005 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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