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(Heft 3/1999)

Kathrin Schmidt:
Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman
Köln 1998, 431 Seiten
ISBN 3-462-02742-5
Die verschwiegene Seite der Geschichte




"Ich stimme für einen sprachwichtigen Text, für das Zeugnis einer überaus eigenwilligen, hoch poetischen Aneignung deutscher Geschichte ...‚ ich stimme selbstverständlich für Kathrin Schmidt", sprach die Kritikerin Iris Radisch, als es letztes Jahr darum ging, den 22. Ingeborg-Bachmann-Preis zu vergeben. Das war mir recht, doch leider: die Jury entschied mit vier zu drei Stimmen gegen die gebürtige Gothaerin (Jahrgang 1958), die heute in Berlin lebt. Und so bekam sie denn den Preis des Landes Kärnten. Mit sechs zu einer Stimme. Und 120 000 Schilling.

Hoffen wir, dass sie sich darüber nicht geärgert hat. Und hoffen wir weiter, dass vielleicht eines Tages die Stadt Waltershausen einen gut dotierten Literaturpreis vergeben möchte. Denn der gebührte auf jeden Fall dieser Autorin, weil Waltershausen durch ihren Debütroman sozusagen zu einem literarisch zu Buche schlagenden Ort geworden ist.

Aber der Reihe nach. Die Gunnar-Lennefsen-Expedition ist zunächst einmal ein Buch mit einem seltsamen Titel. Er klingt nach Entdeckung eines bis dato unberührten Kontinents, nach Abenteuer und Gefahr. Die Sucht nach Unbekanntem, Geheimnisvollem, Noch-nicht-Gesehenem schwingt in ihm ebenso mit wie die Möglichkeit, das Leben einzubüßen in dem Bemühen, ihm neue Räume zu eröffnen. Gunnar Lennefsen - das signalisiert gleichsam Wagemut, Aufbruchslust und Unerschrockenheit. Und assoziiert werden durch den Klang dieses Namens jene Männer, deren Spur in Eis und Kälte führte, oftmals sich dort auch verlor.

Für Kathrin Schmidts Heldinnen - die betagte Therese Schlupfburg und ihre Urenkelin Josepha - steht der erfundene Namenspatron ihres Aufbruchs in eine weitverzweigte Familiengeschichte genau für diese Qualitäten. Allein nicht männlichem Eroberungsdrang wird von den beiden Frauen nachgeeifert, sondern die Expedition, die sie anstrengen, um einem Kind, welches Josepha am Ende des Romans auf die Welt bringen wird, zu seiner Geschichte zu verhelfen, steht ganz im Zeichen der erzählerischen (Rück-) Gewinnung von Vergangenem, ohne das die Gegenwart nicht denkbar ist. Es sind Stationen einer komplementären Historie, die das Buch in elf Etappen vor seinen Lesern ausbreitet, eine Jahrhunderterzählung in Häppchen, jenseits des offiziellen Gedächtnisses faktenverliebter Geschichtsschreibung angesiedelt.

Was damit beeindruckend gelingt, ist Erinnerungsarbeit ganz eigener Art. Denn in der weit sich verzweigenden Dynastie der Schlupfburgs, Wilczinskis, Hebenstreits & Co. haben die Frauen das Sagen. Sie dominieren die Sippe. Sie sorgen dafür, dass ihre strotzende Daseinslust von Generation zu Generation weitergegeben wird. Sie haben den direkten Draht zum Leben, weil sie es selbstbestimmt hervorbringen, in seine Bahnen lenken und zäh verteidigen, zur Not mit einem Totschlag, der jenen, welchen er ereilt, vor Schlimmerem beschützt.

Alles was das Buch an Männern aufzubieten hat, wirkt dagegen blass und der beständigen Gefahr ausgesetzt, sich in den Geschäftigkeiten einer Welt, die nicht jene der Frauen ist, zu verlieren. Deshalb braucht man sie wohl, aber nicht für immer und ewig. Haben sie ihren Beitrag geleistet zur Erhaltung der Art, dürfen sie hinaus auf die Schlachtfelder des Jahrhunderts, Positionen beziehen im Parteienstreit, Heldentode sterben und dem Dasein einen Sinn suchen jenseits des Zeugungsakts, für den sie ausgewählt wurden. Man nimmt sie sich, wenn man sie braucht. Und vergißt sie schnell, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben.

Kathrin Schmidts Buch erzählt Geschichten statt Geschichte. Elfmal läßt es im Hause der greisen Therese eine imaginäre Leinwand auftauchen, auf der Episoden aus dem Familienleben der letzten knapp hundert Jahre sich abspielen. Barocke Dramen vordergründiger Körperlichkeit rücken da ins Licht, die mit der Drastik ihrer Darstellung und der Lust am pittoresken Detail an den Günter Grass der Danziger Trilogie erinnern. Einen Grass allerdings, dem über weite Strecken mehr als ein Hauch des Magischen Realismus Lateinamerikas, wie er etwa in den Romanen von Gabriel Garcia Marquez Gestalt gewonnen hat, beigemischt scheint. Und so fühlt man sich in den deutschen Szenerien der Autorin zugleich zuhause wie auf wundersame Art und Weise fremd. Vermeint die Dinge zu kennen und erfährt im selben Moment staunend, was alles passieren kann, wenn eine überbordende Einfallskraft sich ihrer bemächtigt. Gestalten ersinnt, deren Tun und Lassen auf köstliche Weise von einem Götterhimmel gelenkt wird, in den die Protagonistinnen des Romans am Ende hinaufschweben, als wäre es das Selbstverständlichste.

Josepha Schlupfburg und ihre Ahnin leben in der DDR des Jahres 1976. Entsprechend voll an musealen Details ist der Roman. So wird dem Leser nicht nur die allseits beliebte Schlagersüßtafel ins Gedächtnis zurückgerufen, wenn er sie denn je vergessen haben sollte, sondern auch die russische Schlagersängerin Alla Pugatschowa, ein unvergessenes Juwel aus dem Kessel Buntes der Unterhaltungskunst.

Doch im "Diesseits der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze" - eine Sentenz, die der Roman nicht müde wird, zu wiederholen - geht es chaotischer und subversiver zu, als das die allseits präsente Ordnungsmacht wahrhaben möchte. Und so kann letztere zwar mit ihren bewährten Mitteln einschreiten, wenn sie vermutet, dass dem Staate irgendwo ein Leids getan werden soll, vermag allerdings nicht zu verhindern, dass an zehn anderen Stellen neue zauberische Kräfte ihr Wesen entfalten.

Die Gunnar-Lennefsen-Expedition bringt die Phantasie in der Literatur an die Macht. Indem diese Lokalitäten besetzt, die wir zu kennen glauben wie nur irgend etwas, prosaische Nester, hundertmal ohne anzuhalten durchfahren, poetisiert, öffnet sie zugleich die Augen für das Ungewöhnliche im Alltag. Eine Art Verfremdungstechnik bannt das Gewesene und verdeutlicht, dass da noch etwas anderes war. Etwas, dem Zügel anzulegen sich nicht lohnte. Etwas, das der Lesart des Historiographen, dessen Blick naturgemäß auf das faktisch Manifeste fällt, entging. Etwas, dass sich dem ideologischen Rummel entzog, oder besser: nicht entzog, sondern diesen Rummel unterminierte, ihn bloßstellte als bleiches Schattentheater, so unlebendig wie lachhaft steril. Kathrin Schmidts Romandebüt endet mit Geburt und Tod. Während eine neue Generation auf den Plan tritt, um in eine andere Art von Geschichte hineinzuwachsen, verabschieden sich jene, die das Jahrhundert vor dem Jahrtausendwechsel erlebten, ohnmächtig, seinen Gang mitzubestimmen, mächtig genug freilich, ihm im Verborgenen abzugewinnen, was jede Zeit zu geben hat: Lebenskräfte, die letztendlich triumphieren über alle Thesen, Utopien und Interpretationen, welche an das Dasein von außen herangebracht werden. Lebenskräfte, von denen die Autorin offensichtlich meint, dass sie mehr den Frauen zugehören als den Männern. Man kann ihr darin schwer widersprechen.

© 1999 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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