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Juli Zeh:
Nullzeit.
Roman


Frankfurt/Main: Schöffling&Co. 2012
204 Seiten
ISBN 978-3-89561-436-1
"Wer schweigt, lügt nicht"




Sie haben Deutschland hinter sich gelassen, das "Kriegsgebiet", wie es Sven, eine der vier Hauptfiguren aus Juli Zehs neuem Roman "Nullzeit", gerne nennt. Auf Lanzarote, wo es im Jahr 300 laue Abende gibt, hat sich der Tauchlehrer gemeinsam mit seiner Freundin Antje eine neue Existenz geschaffen. Man ist für Urlauber da - wenn's sein muss rund um die Uhr -, lebt auf einer idyllischen Hazienda mit Gästehaus und verschwendet kaum einen Gedanken mehr an die alte Heimat. Bis ein 42-jähriger Schriftsteller und seine um Etliches jüngere Geliebte, die als Serienschauspielerin eine gewisse Prominenz genießt, diese Idylle kräftig aufmischen.

Theodor Hast, den der Roman kurz Theo nennt, und Jola, mit vollem Namen Jolante Augusta Sophie von der Pahlen, stellen so etwas wie den Gegenentwurf zu dem Pärchen dar, bei dem sie sich für viel Geld zu einem Tauchkurs eingemietet haben. Zynisch und gewalttätig der Mann, dessen Karriere offensichtlich schon seit längerer Zeit einen Hänger hat. Aufreizend und hintertrieben das Fernsehsternchen, das für die Rolle der Fotografin und Tauchpionierin Lotte Hass - deren Erlebnisbuch "Ein Mädchen auf dem Meeresgrund" (1970) vor Jahresfrist von ZDF und ORF mit der Ex-Seriendarstellerin und Sängerin Yvonne Catterfeld in der Hauptrolle verfilmt wurde -, um die es sich heftig bemüht, noch ein bisschen Unterwassererfahrung benötigt.

Doch ist das wirklich die Wahrheit über die beiden, von denen man schnell ahnt, dass sie in der Lage sind, dem ruhig dahinfließenden Leben von Sven und Antje eine verhängnisvolle Wendung zu geben? Und wem soll der Leser glauben? Zeh lässt nämlich von Anfang an zwei Sichtweisen auf die Geschehnisse nebeneinanderherlaufen. Und je weiter der Roman fortschreitet, umso mehr unterscheidet sich das, was dem Leser aus diesen Perspektiven heraus mitgeteilt wird, voneinander.

Da ist zum einen der Bericht des Ich-Erzählers Sven. Abgeklärt kommt der daher, auch dann, wenn er auf die Faszination zu sprechen kommt, die Jola schon bald nach ihrer Ankunft auf ihn auszuüben scheint. Völlig anders hört sich das in den Tagebucheinträgen der jungen Schauspielerin an, die einem Großteil der Romankapitel nachgestellt sind. In ihnen spielt Sven eine viel aktivere Rolle und scheint schon nach wenigen Tagen derjenige zu sein, der Jola aus ihrer sadomasochistischen Verfallenheit an den "alten Mann", wie das Diarium den Schriftsteller nennt, erlösen könnte. Dazu bedürfte es freilich einer Tat, zu der den Zögernden sowohl die junge Frau als auch der Schriftsteller immer wieder ermuntern.

Es ist die Konstellation eines Psychothrillers, mit der Juli Zeh in ihrem aktuellen Roman aufwartet. Die Patricia Highsmith der neueren deutschen Literatur zu werden, hat sie mit "Nullzeit" aber sicherlich nicht bezweckt. Dazu wäre auch der Gang der Intrige von vornherein zu durchschaubar, der Spannungsbogen zu flach, die Lösung zu unspektakulär. Denn natürlich weiß man bereits nach ein paar Seiten, dass von dem Quartett, welches einem eingangs vorgestellt wird, wahrscheinlich nur noch ein Terzett das Ende des Buches erleben wird. Und - abhängig davon, welcher der beiden Erzählinstanzen, die gegen Ende hin immer weiter auseinanderdriften, man zu glauben geneigt ist - auch über das potenzielle Opfer der Geschichte besitzt man relativ früh klare Vorstellungen.

Doch gerade dass es nicht so kommt, wie zeitig erahnt, macht die Stärke dieses Buches aus. Und auch, dass es über seine Titelmetapher und die vielen glänzenden Unterwasserszenen eine starke zweite, metaphorische Verständnisebene eröffnet. Bei der so genannten "Nullzeit" handelt es sich nämlich um jene Zeitspanne, die ein Mensch in einer bestimmten Tiefe unter Wasser verbringen kann, ohne sein Leben bei einem sofortigen Auftauchen zu gefährden. Bleibt ein Taucher über diesen Zeitraum unten, muss er seine Rückkehr aus der Tiefe zeitlich genau dosieren.

Svens Problem ist nun, dass er sich zu lange aus den Geschicken dieser Welt herausgehalten hat, "abgetaucht" ist im übertragenen Sinne des Wortes, sich für eine Existenz am Rande entschieden hat, weit weg von den komplizierten Zusammenhängen, die ständig neue moralische Entscheidungen von jedem Menschen verlangen. "Du hältst dich für einen Oberindividualisten. Für einen ganzen Kerl, der mutig genug war, um auszusteigen und das Spiel der Dummen und Schwachen nicht mehr mitzuspielen. Aber du bist nicht der Sonderfall. Du bist nicht einmal ausgestiegen. Du bist der überforderte Prototypus des überforderten 21. Jahrhundert", muss er sich von seinem zynisch-hellsichtigen Konkurrenten um die Gunst Jolas daraufhin sagen lassen. Dass er trotzdem aktiv wird und sich am Ende seiner menschlichen Verantwortung stellt, Farbe bekennt in einem Spiel, in dem es lange so aussieht, als wäre er eine von anderen bewegte Spielfigur ohne eigenen Willen, kostet ihn schließlich fast das Leben. Denn er hat seine ganz persönliche Nullzeit längst überschritten und meldet sich zu schnell dort wieder an, wo seine Erfinderin all die vielen gleichgültigen Zeitgenossen gern sähe, denen sie mit ihrem Roman die Leviten liest.


© 2012 by Dietmar Jacobsen/ in: KULTURforum. Das Kulturmagazin Ausgabe 2 / 2012, S. 18 f.


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