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Die aktuelle Rezension
(Dezember 2008)

Jean-François Vilar:
Die Verschwundenen
Berlin/ Hamburg: Assoziation A 2008, 464 Seiten
ISBN 978-3-935936-64-4
Rückblick auf ein Jahrhundert




Dieses Buch erschien bereits vor fünfzehn Jahren in Frankreich. Unter einem Titel, der mehr sagt über das, was es uns zu erzählen hat, als jener, den jetzt die deutsche Ausgabe trägt. "Nous cheminons entourés de fantômes aux fronts troués": Wir schreiten voran inmitten von Gespenstern mit durchlöcherter Stirn. "Wir" meint wohl dabei all jene, die im Jahrhundert der Ismen und Ideologien am Kampf für eine gerechtere Zukunft sich beteiligten. Einem Ringen, welches Abermillionen von Menschen das Leben kostete nicht zuletzt deshalb, weil all die "Erniedrigten und Beleidigten" unter keinem gemeinsamen Banner zu vereinigen waren, sondern stets in Splittergruppen und -grüppchen zerfielen, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als sich gegenseitig an den Hals zu gehen.

Ein Jahr ist es besonders, das in der katastrophalen Geschichte zwischen 1917 und 1989 für das Auseinanderdriften von Kräften steht, die einst angetreten waren, um auf die sich verschärfende soziale Frage eine revolutionäre, die Verhältnisse von Grund auf wendende Antwort zu geben: 1938. Vilar konfrontiert die damals sich abspielenden Ereignisse einem neueren historischen Datum, der osteuropäischen, (weitgehend) "friedlichen" oder "sanften" Revolution von 1989/90, in der er zum Ziel kommen sieht, was in Ost- und Westeuropa 1968 noch hatte scheitern müsssen. Man kann, nach all den blutigen Irrungen und Wirrungen, von denen er berichtet, die Erleichterung geradezu spüren, wenn eine seiner zentralen Figuren am Ende das Fazit unserer Tage zieht: "Kein Mensch will mehr was vom Sozialismus hören, ob nun mit menschlichem Antlitz oder nicht. Die feinen Unterschiede zwischen Stalin und Trotzki sind den Leuten völlig schnuppe. Sogar Lenin ist unhaltbar geworden. Der Bolschewismus war ein Block ... Er ist zerbröckelt."

Victor B., Held der Verschwundenen, Pariser Fotograf mit Sympathien, aber gebremstem Engagement für die Linke, wird praktisch aus dem Nichts mitten hinein in die weltverändernden Ereignisse der späten 80er geworfen. Drei Jahre lang waren er und ein Schicksalsgenosse, Alex Katz, Gefangene einer mysteriösen Terrorgruppe, ohne je zu erfahren, aus welchem Grund und zu welchem Zweck man gerade ihn festhielt. Nun, ebenso überraschend wieder auf freien Fuß gesetzt, macht er sich daran, Licht ins Dunkel der verlorenen Zeit zu bringen. Und während sich um ihn herum alles nur noch für den Fall der Berliner Mauer und die Ereignisse in Prag und den anderen osteuropäischen Metropolen interessiert, muss er erleben, wie sein Mitgefangener Opfer eines geheimnisvollen Verkehrsunfalls wird. Kurz darauf fällt ihm das Tagebuch von dessen Vater, Alfred Katz, in die Hände.

Fortan spielt sich Vilars Roman auf zwei Ebenen ab, die geschickt miteinander verwoben werden, aufeinander verweisen durch Orte, Personen, Ereignisse, ja manchmal gänzlich miteinander verschmelzen und damit ein Drittes, Verbindendes ins Spiel bringen: die zeitlosen Anstrengungen unzähliger Menschen, ihrem Leben einen überpersönlichen Sinn zu verleihen. B. liest das 51 Jahre alte Tagebuch und sucht gleichzeitig, sich in seiner Gegenwart zu orientieren. Lektüre wie Leben konfrontieren ihn mit undurchschaubaren Ereignissen, geheimnisvollen Begegnungen, faszinierenden Frauen und immer wieder der einen, entscheidenden Frage: Wem kann man trauen in einer Welt, in der alles in Bewegung ist und jedes Ereignis eine zweite, dunkle Seite besitzt.

Alfred Katz, Dichter und Trotzkist, kommt 1938 nach Paris, um als Autor zu reüssieren und sich auf der seiner Meinung nach richtigen Seite in die Kämpfe der Zeit einzubringen. Bald schon geht er nicht nur im Surrealistenzirkel um André Breton ein und aus, sondern ist heillos verstrickt in die Machenschaften zwischen Stalinisten und Trotzkisten. Er begegnet dem Mann, der durch seinen Anschlag auf einen deutschen Diplomaten den Nazis den willkommenen Anlass für die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November liefert, und schließt Bekanntschaft mit dem späteren Trotzki-Mörder Ramón Mercader. Und immer wieder gerät sein Leben selbst in Gefahr.

Ein breites historisches Panorama entfalten Die Verschwundenen damit, farbenreich, authentisch, spannend und jederzeit nachprüfbar. Die Heraufbeschwörung einer Zeit des Aufbruchs in allen Lebensbereichen, eines Aufbruchs, dem sich jeder Einzelne zu stellen hatte ohne die Chance, wirklich zu durchschauen, was geschah. Doch bei aller Nähe zu den historischen Realitäten, die durch ein dem Roman angehängtes 14-seitiges Glossar von "A" wie Louis Aragon bis "Z" wie Zimmerwald-Konferenz detailliert erläutert werden, ist schnell klar, dass sich Katz und Genossen auf unsicherem Terrain bewegen. Hier steht nichts wirklich fest, kann man sich auf niemanden verlassen, werden aus Feinden über Nacht Freunde und jene, denen man uneingeschränkten Glauben schenkt, entpuppen sich von einem Tag auf den nächsten als aufgeblasene Wichtigtuer.

Jean-François Vilar ist ein vielschichtiger Roman gelungen, der sich unterm Strich freilich nicht "wegliest". Dazu ist die Materie zu kompliziert, in die er einführt. Und auch wenn man den Text schlicht als Kriminalroman konsumiert, verkürzt man ihn zu sehr, ja reduziert ihn letztlich auf die am wenigsten funktionierende seiner vielen Seiten. Schließlich geht es ihm um weit mehr als die persönlichen Schicksale seiner zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts lebenden Protagonisten. Er will Erinnerung, Kritik und Ausblick in einem sein. Den Verschwundenen ein Denkmal setzen. Und die Lebenden ermutigen.



© 2008 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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