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Die aktuelle Rezension
(Dezember 2009)

Jean Amila:
Die Abreibung

Saarbrücken: CONTE 2009,
185 Seiten
ISBN 978-3-936950-96-0
Der "Graf" und die Schwesternschülerinnen




Dank des Saarbrücker CONTE Verlags und eines Übersetzerteams der Mainzer Universität, das unter dem Namen Helm.S.Germer von Jahr zu Jahr in unterschiedlichen Besetzungen auftritt und von Dr. Bernd Bauske geleitet wird, darf der deutsche Leser seit 2005 endlich wieder das hierzulande fast in Vergessenheit geratene Werk des 1910 in Paris geborenen Jean Meckert, der sich auf Anraten von Marcel Duhamel als Série-noire-Autor Jean Amila nannte, entdecken. Mond über Omaha (Erscheinungsjahr des Originals: 1964) war der erste Band. Mit Die Abreibung (1955) sind wir aktuell bei Band 5 der grafisch schön und wiedererkennbar gestalteten Reihe angelangt. Ein Prinzip, nach dem sich Verlag und Übersetzer bei der Auswahl der einzelnen Bände richten - sie erscheinen bisher weder in ihrer historischen Chronologie noch spielen inhaltliche Zusammenhänge einzelner Romane eine die Auswahl lenkende Rolle -, hat sich mir bis dato noch nicht erschlossen. Dafür verfestigt sich von Roman zu Roman der Eindruck, dass auf einen starken Amila immer ein schwächerer folgt und umgekehrt. Mit einem echten Highlight startete die Serie, dann kam das nicht ganz so überzeugende Mitleid mit den Ratten (1964). Die Calvados-Posse Bis nichts mehr geht (1958) unterhielt wieder erstklassig, während das kammerspielähnliche Motus (1953) ein bisschen wirr erschien. Diesem "Gesetz" folgend, müsste Die Abreibung nun also wieder ein herausragender Text sein. Ist das so? Und ob!

Schon das erste Kapitel hat Atmosphäre. Da begegnen sich in einer dunklen Kaschemme ein Gangstertrio und zwei Schwesternschülerinnen. Letztere stehen vor der ersten Krankenhausnachtschicht in ihrem Berufsleben. Erstere - René Lecomte, Haupt der Pariser Unterwelt, seine Geliebte Maine und Roger, ein kleines Licht in der Hierarchie des Verbrechens - sind unterwegs, um Schulden einzutreiben, auf die der eben aus Lateinamerika zurückgekehrte "Graf" Anspruch zu haben meint. Aber die Sache geht schief, Lecomte gerät in einen Hinterhalt und wird angeschossen. Und plötzlich bringt die Frage der potenziellen Nachfolge des ob seiner Zähigkeit gefürchteten Mannes alles auf die Straße, was schon immer entsprechende Ambitionen und ein paar gewissenlose Leute unter Waffen hatte.

Allein umsonst hat Amila die Begegnung mit den spitzzüngigen Schwesternschülerinnen zu Beginn des Romans nicht inszeniert. Denn obwohl schwer verletzt, gelingt es dem "Grafen" (le comte = der Graf), der schon ganz andere Sachen überlebt hat, sich in das Krankenhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu schleppen, wo ihm eine Notoperation das Leben zumindest bis zum nächsten Morgen rettet.

Und da sieht man sie dann auch räumlich nebeneinanderliegen, nur durch eine lange, hohe, graue Mauer getrennt: die dunkle Welt der Vorortstraßen, in der sich zwielichtiges, bis an die Zähne bewaffnetes Gesindel ohne Moral und Skrupel herumtreibt, und jene scheinbar ganz andere, humanistische Sphäre, in der alles unternommen wird, um Menschen zu helfen. Hier die Gier, die über Leichen geht, da die humane Sendung, die sich dem Leben verpflichtet sieht, den hippokratischen Eid als Richtschnur hat und alles in ihren Kräften Stehende tut, Leid zumindest zu vermindern. Eigentlich einander komplett ausschließende Bereiche - doch schaut man mit Jean Amila nur genauer hin, verschwimmen bald die Unterschiede.

Genau darauf läuft Die Abreibung unterm Strich hinaus. Denn was Sylvie und Thérèse, die beiden sympathisch-gutwilligen jungen Frauen, während ihrer ersten Nachtschicht erleben, weist durchaus Parallelen zu den Macht- und Verteilungskämpfen draußen auf. Triumphieren jenseits der Spitalmauern Brutalität und Hinterhältigkeit, gehen die "Götter in Weiß" diesseits auch nicht sonderlich anders miteinander und mit den ihnen Unterstellten um. Sylvie muss sich schon bald nach Dienstantritt die Zudringlichkeiten eines Assistenzarztes verbitten. Und Thérèse will es beim besten Willen nicht gelingen, mit dem immer gegenwärtigen Tod so zynisch umzugehen, wie es offensichtlich alle anderen tun.

Am Ende der Nacht sind Amilas Berufsanfängerinnen gehörig desillusioniert. Im Unterschied freilich zu jenen, die auf den Straßen blutig um die Nachfolge des "Grafen" gekämpft haben und ihn nun zu Grabe tragen, gewährt der Autor zumindest der jungen Thérèse so etwas wie ein zartes Happy End. Und dem Leser die Freude an einem kurzweiligen, bei der Übersetzung mehr dem Ton unserer Tage als dem Sound der 50er verpflichteten Buch, das wieder einmal Lust auf mehr Amila gemacht hat.


© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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