Home
Kurse
Termine
Lektorat/ Korrektorat
Webdesign
Links
Rezensionen
Kontakt
Impressum
www.text-und-web.de
Weiterbildung/ Text-Management/ Design
PALMBAUM
(Heft 3/1998)

Ingo Schulze:
Simple Storys
Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz
Berlin 1998, 303 Seiten
ISBN 3-8270-0051-3
Der Osten ist grau




Nun habe Deutschland, vorzüglich der Osten, endlich sein Buch, schrieben sie in den Feuilletons der großen Hamburger Wochenzeitschriften, als Schulzes Simple Storys erschienen. Jetzt sei er da, der ultimative Wenderoman, und was er konstatiere in der Altenburger Provinz, wäre die graue Realität des Vereinigungsprozesses. Das festgestellt, zog man sich freilich schnell zurück aufs Formelle, lobte ein Talent, dem die Machart der amerikanischen Kurzgeschichte genauso geläufig sei wie der Ton der großen russischen Realisten in seinem Debütbuch drei Jahre zuvor, gab noch das eine oder andere krude Detail zum Besten und - fertig.

Wir aber, die wir uns etwas Zeit gelassen haben mit der Lektüre, erheben Einspruch. Und zwar in folgenden Punkten.

Erstens scheint uns die von allen Rezensenten fraglos hingenommene Genrebezeichnung Roman für Ingo Schulzes locker kompilierte Geschichtensammlung etwas unglücklich. Da ist zwar viel Geschick und handwerkliches Können zu verzeichnen, wenn es darum geht, Episoden zu verflechten, aber unterm Strich ergibt das Neben-, Unter- und Miteinander der einzelnen Bausteine dieses Textes eben doch keinen Roman in dem klassischen Sinne, daß Abläufe - Entwicklungen gar - in den Blick gerieten.

Zweitens ist das Thema des Buches nicht die Wende, sondern das Ausbleiben von deren heilsamen Folgen, wie die Politprominenz des neuen Deutschland sie einst nicht müde wurde zu prophezeien. Verquere Verhältnisse kommen ins Bild, mal poetisch überhöht, mal prosaisch auf den Punkt gebracht, die so trist wie aussichtslos erscheinen. Künstlerische Meisterschaft arbeitet sich ab an Materialien, die spröde sind und Widerstand leisten, denen die Ecken und Kanten nicht abgeschliffen werden können.

Drittens und vor allem aber glaube ich, daß nun nicht "der Osten" seinen Text zur Situation hat, schließlich lebt er schon seit einer Weile in ihr, sondern - das Fortschreiben einer inneren Teilung nach Verschwinden der äußeren Grenzen sei erlaubt, weil es allenthalben praktiziert wird - "der Westen".

Simple Storys ist der fragmentierte Zustandsbericht aus einer Region des sogenannten "Beitrittsgebiets", in der - laut Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit - überdurchschnittlich viele Menschen aus dem Prozeß herausgefallen sind, welcher nach weiterhin gültigen Wertmaßstäben Ansehen wie Identität des einzelnen mitverbürgt. Was seinen Protagonisten blieb - so die Erkenntnis vorliegenden Buches unterm Strich - sind Biographietrümmer, abgeschnittene Lebensläufe, denen zwar rein äußerlich eine neue Richtung gegeben wurde, der es aber an der inneren Zustimmung durch die Betroffenen mangelt. Mag man deshalb unter den gewandelten Verhältnissen erfolgreich sein oder scheitern - Schulze führt façettenreich beide Varianten vor -, kaum hinwegtäuschen kann das darüber, daß der jeweilige Erfolg bzw. Mißerfolg in nichts weiter gründet als den Zufälligkeiten von Angebot und Nachfrage.

Deshalb die Schemenhaftigkeit der Figuren, denen es an menschlichem Profil gebricht, weil niemand und nichts es ihnen mehr abverlangt. Deshalb ihre Art des Unterwegsseins als eine ständige Bewegung im Kreise um ein Zentrum, welchem weder Name noch Kontur gegeben werden können. Deshalb die stille Verzweiflung in den meisten der neunundzwanzig Geschichten, welche umso lastender wird, je weniger Einspruch und Kommentar sie von der Position des Autors aus erreicht.

Wer letzteres gewöhnt ist oder gar von Literatur erwartet, sollte die Finger von Schulzes unterkühltem Erzählreigen lassen. Hier wird niemand an die Hand genommen, nichts wird erklärt. Keiner der Momente aus dem Leben von einem knappen Dutzend Personen, denen man beim Lesen begegnet, hält etwas Unerhörtes, Niedagewesenes fest. So simpel, wie es der Titel annonciert, kommen die Kapitel daher und verraten schon mit ihren Überschriften, was sie an Handlung offerieren. Es wird ein bißchen geliebt, ein wenig gehaßt, wenn sich die Gelegenheit ergibt: betrogen und - meistens zur falschen Zeit - gestorben. Das Ganze dargeboten mit einem kaum mehr unterbietbaren Minimalismus an Emotion, Ausdruck und Atmosphäre und doch - bei aller Kargheit und Kälte des Gestus - Bilder findend, die hängenbleiben.

Zum Beispiel jenes, mit dem das Buch endet. Da finden sich zwei Menschen, denen man vorher schon in anderen Situationen begegnete, bei einer Gelegenheitsarbeit zusammen, die ihnen abverlangt, durch die Fußgängerzone einer ungenannt bleibenden Stadt zu laufen und Reklamezettel - Flyer - zu verteilen. Beide - Mann und Frau - stecken in Taucheranzügen und sind gehalten, den Umsatz eines Fischrestaurants zu steigern. Wie man zur Nordsee komme, haben sie zu fragen, und auf alle erwartbaren Antworten wurde ihnen die Replik antrainiert, welche ihr jeweiliges Gegenüber schnell und mit Witz von der Lukrativität eines herabgesetzten Menüs überzeugen soll. Die Arbeit scheint Spaß zu machen. Bis ein Passant den Mann grundlos zu Boden schlägt und niemand sich um den solcherart Gedemütigten kümmert. Allein seine Begleiterin nimmt ihn bei der Hand, und im Gleichschritt, zu den Klängen einer Kapelle, verlassen die beiden den Schauplatz.

Das Geschehnis ist so unspektakulär wie nur irgendeines. Und doch schlägt es in den Bann. Freilich nicht mit dem, was mitgeteilt wird, sondern durch die Art der Präsentation. Neun Seiten, auf denen er ein bißchen Dialog, der völlig ohne Dramatik ist, mischt mit kargen Ortsbeschreibungen, die auf so ziemlich jede deutsche Stadt mindestens mittlerer Größe zutreffen könnten, genügen dem Autor, um ein Klima der Beklemmung zu erzeugen. Dabei ist kaum zu greifen, was genau schiefläuft. Alltäglichstes wird beschrieben in einer einfachen, klaren, nachvollziehbaren Sprache. Die Figuren haben keine übertriebenen Ambitionen, mit dem, was sie tun, identifizieren sie sich nur marginal. Was ihnen auf ihrem Gang durch die Stadt begegnet, ist normal, ja nicht einmal der Zwischenfall, welcher den Mann betrifft, scheint aus dieser Normalität herauszufallen. Und doch scheitert hier - so suggeriert der Text - ein Glücksanspruch. Am Ende eines hoffnungsvollen Tages steht das Dilemma, das Nichtankommen vor allem bei sich selbst, ein aus dem Verhängnis, welches die anfängliche Idylle urplötzlich zerstört, resultierender Fluchtwunsch.

"Möglichst weit" weg will Schulzes Protagonist, wenn er sich wieder aufgerappelt hat. An ein konkretes Ziel denkt er dabei nicht. Auch nicht an die Bedeutungslosigkeit des Anlasses, der ihm bewußt werden ließ, wie wenig er dorthin gehört, wo er gerade ist. Nur die Erkenntnis seines Versagens, dem er sich allerdings nicht stellen kann, weil ihm der Einblick in dessen Ursache verwehrt bleibt, ist noch von Bedeutung.

Dabei hat der Mann Glück. Das Buch stellt ihm einen intuitiv verstehenden anderen Menschen an die Seite, der ihn vielleicht in seinem freien Fall aufzuhalten vermag. Für viele andere der vorgestellten Personen ist dieser Ausweg aus den Irritationen einer Zeitenwende, die ihnen ihr Selbstbewußtsein genommen hat, nicht mehr vorstellbar. Sie bleiben allein - auch zu zweit, selbst im Triumph.

Ingo Schulzes Osten, von der Kleinstadt Altenburg im Thüringischen bis zur neuen alten Hauptstadt Berlin, ist grau. Desorientiert und heimatlos wirken seine Gestalten, selbst wo sie den Boden der Heimat noch unter den Füßen haben. Wertewandel bedeutet für sie Identitätsverlust. Wie freischwebende Seeelen, die sich einen Körper suchen, irren sie herum. Aber alle Körper, denen sie sich nähern, sind schon besetzt. So müssen sie immer weiter, einer Hoffnung nach, deren Vorschein längst verblaßt ist.

© 1998 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


Lesen Sie bitte hier meine letzten Rezensionen

Zum Seitenanfang
Zur Startseite