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Henning Mankell:
Der Chinese

Wien: Paul Zsolnay Verlag 2008
606 Seiten
ISBN 978-3-89425-656-2
Think global - kill local




Birgitta Roslin ist eine von jenen typischen Mankell-Figuren, denen Probleme privater, beruflicher und gesellschaftlicher Art die Tage lang und die Nächte kurz und schmerzvoll machen. Natürlich ist sie als Staatsbedienstete überarbeitet, weil es in Schweden zu wenige Richter für zu viele Kriminelle gibt. Und dass es mit dem aus seiner bürgerlichen Karriere ausgestiegenen Ehemann nicht mehr so ganz funktionieren will, während die Kinder fern und überwiegend mit sich selbst beschäftigt sind, überrascht treue Leser des Bestsellerautors auch nicht weiter. Bei Mankell ist das eben so - und nur weil es so ist, funktionieren seine Bücher, sind in ihren besten Momenten systemkritisch und spannend zugleich, verabschieden alle gewesenen Heilserwartungen und halten doch heimlich weiter an ihnen fest, zumindest an der einen und letzten des integren Einzelnen, so wie ihn Mankel selbst lebt in seinem leidenschaftlichen Einsatz für die Armen Afrikas.

Birgitta Roslin jedenfalls - um wieder auf die Hauptperson des Romans Der Chinese zurückzukommen - erfährt anlässlich einer ärztlichen Routineuntersuchung, dass ihre Blutwerte Anlass zu Besorgnis geben und eine kurze berufliche Auszeit unumgänglich ist. Zur gleichen Zeit geistern durch die schwedischen Medien Berichte von einem grausamen Massenmord im dünn besiedelten Norrland. Und weil sich Birgitta erinnert, dass ihre verstorbene Mutter als Kind zu Pflegeeltern just in diese Gegend gegeben wurde, beginnt sie zu recherchieren. Schnell hat sie herausgefunden, dass unter den 19 Toten auch jene beiden Alten sind, die sie kaum gekannt hat. Bereits kurz darauf sitzt sie im Auto, um sich vor Ort ihr eigenes Bild zu machen. Was damit beginnt ist keine Erholungsreise, sondern ein Abenteuer, das sie letztlich weit weg von ihrer schwedischen Heimat bis nach China führt und doch belegt, wie nahe Menschen und Probleme aus unterschiedlichen Erdteilen sich in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts gerückt sind.

Es sind zwei Tagebücher, beide über hundert Jahre alt, die im weiteren Verlauf des Romans wichtige Rollen spielen. Das eine, gefunden von der neugierigen Richterin im Hause der beiden Ermordeten, berichtet vom Leben eines Mitte des 19. Jahrhunderts nach Nordamerika ausgewanderten Familienangehörigen, der als Vorarbeiter bei einer Eisenbahngesellschaft unterkam. Das zweite ist praktisch das Komplementärstück des ersten. Geschrieben von dem Chinesen San, den Menschenhändler gemeinsam mit seinen Brüdern als Zwangsarbeiter verkauften, zeigt es die dunkle Seite des American Way of Life, die Welt jener, die Kraft, Gesundheit und oft auch ihr Leben geben mussten, damit die Industrialisierung des riesigen Kontinents voranschreiten konnte. In dem Aufeinandertreffen des schwedischen Antreibers und des chinesischen Sklaven, der sämtlichen Schikanen schutzlos ausgeliefert war und auf der erzwungenen Odyssee nach Amerika seine ganze Familie verlor, liegt letzten Endes auch das Motiv jenes fast anderthalb Jahrhunderte später verübten Massenmords im nördlichen Schweden verborgen. Er entpuppt sich nämlich als Vendetta.

Mankells Roman spielt auf drei Kontinenten und die vier Teile, in die er untergliedert ist, erstrecken sich über einen Handlungszeitraum von 143 Jahren. Klar, dass da manchmal die Scharniere, die die Zeitebenen miteinander verbinden, etwas knirschen. Dass sich ein chinesischer Oligarch für die Untaten eines nach Amerika ausgewanderten Schweden an dessen europäischen Ururenkeln blutig rächt, indem er ein ganzes Dorf niedermetzeln lässt - äußerst unwahrscheinlich, auch wenn dieser Ya Ru die Züge eines Psychopathen trägt. Wahrscheinlicher dagegen schon Pläne der gegenwärtigen Machthaber des Reichs der Mitte, der Unzufriedenheit von Millionen freigesetzter Landarbeiter, die in den wachsenden Metropolen kein neues Auskommen zu finden vermögen, durch Umsiedlung auf den afrikanischen Kontinent beizukommen. Und als Tatsache gegeben sicher der Richtungsstreit zwischen Traditionalisten und Modernisten in der heutigen chinesischen Führung. Alles zusammen in einem Roman freilich, der als Kriminalroman beginnt und irgendwo zwischen globalisierungskritischem Gesellschaftsroman und Antiutopie endet - das kann kaum gutgehen. Und so bleiben denn in der Tat viele Fragen unbeantwortet, viele Erzählfäden nur lose miteinander verknüpft, viele Figuren blutleer und zu reinen Sprachrohren ihres Autors degradiert.

Birgitta Roslin jedenfalls kehrt am Schluss gesund an ihren Arbeitsplatz zurück und auch die familiären Spannungen scheint sie gemeinsam mit ihrem Mann in den Griff zu bekommen. Die Reise nach China auf den Spuren eines gefährlichen Mörders - der am Ende blutig an der eigenen Hybris scheitert - hat sie gleichzeitig noch einmal mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert, in der der maoistische Weg als Gesellschaftsperspektive für eine kurze Zeit das Denken bestimmte. Darüber ist sie längst hinaus, doch an der Suche nach einem solidarischeren Gesellschaftssystem jenseits des etablierten hält sie trotzdem fest.

Für mich der stärkste Teil des Buchs ist übrigens sein zweiter. Da wird aus der Gegenwart zurückgeblendet in das Amerika des 19. Jahrhunderts. Chinesen, schwarze Sklaven und ein bunt zusammengewürfelter Haufen europäischer Einwanderer treiben den Fortschritt auf zwei Schienen unter mörderischen Anstrengungen quer durchs Land, von Küste zu Küste. Es gibt keinerlei Solidarität unter den Ausgebeuteten, zwischen den einzelnen Ethnien herrschen Feindschaft und Missgunst. Indem Mankell das Schicksal dreier chinesischer Brüder, von denen am Ende nur einer überlebt, so realitätsnah wie krass beschreibt, weht fast so etwas wie ein Hauch von Upton Sinclair durch diesen Roman, dessen Schwächen allerdings zu sehr ins Gewicht fallen, als dass man ihn zu den besseren seines Autors zählen könnte.



© 2008 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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