Es fängt alles ganz harmlos an. Wie immer halt bei Nesser. Oder besser: Nicht ganz wie immer. Denn erstens ist In Liebe, Agnes kein neuer Roman aus der Van-Veeteren-Reihe. Und zweitens haben wir es bei ihm zur guten Hälfte mit einem Briefroman zu tun, also einer recht traditionellen Literaturform, die der schwedische Autor freilich brillant für seine Zwecke zu nutzen weiß.
Jedenfalls: Treffen sich zwei Frauen ... Agnes heißt die eine. Henny die andere. Lange haben sie sich nicht gesehen. Aber früher waren sie einmal Freundinnen. So scheint es jedenfalls dem Leser zunächst. Je mehr er freilich im Laufe des kleinen Romans in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner beiden Hauptfiguren eindringt, umso fragiler kommt ihm diese Freundschaft vor.
Doch nun soll sie erneuert werden. Vor allem Henny setzt alles daran. Der Anlass für ihr Wiedersehen ist übrigens ein trauriger. Agnes' Mann wird beerdigt. Mit noch nicht einmal 60 Jahren ist er gestorben. Und gleich im ersten Kapitel entsteht im Leser der dunkle Verdacht, es könnte mit diesem urplötzlichen Tod, der einen rundum Gesunden wie der berüchtigte Blitz aus heiterem Himmel traf, etwas nicht in Ordnung sein.
Auch Hennys Denken scheint in diese Richtung zu gehen. Denn bald nachdem man sich auf dem Begräbnis wiedergesehen hat, trifft ein erster Brief von ihr bei Agnes ein. Und als diese auf den Annäherungsversuch nicht unfreundlich reagiert ("In Liebe, Agnes!"), kommt das dritte Schreiben knallhart zur Sache. David, Hennys Mann, hat eine andere und dafür soll er büßen. Mit dem Tod. Hat es nicht jenen Hitchcock-Film nach einem Roman der Patricia Highsmith gegeben, in dem sich zwei Fremde im Zug begegneten und ihre Morde tauschten? Und könnte Agnes sich nicht vorstellen, dass sie an Hennys Stelle ...
Psychologisch subtil beschreibt Nesser, wie die Frucht dieses bösen Gedankens auf einen Boden fällt, der sie zunächst nicht annehmen will. Doch langsam packt Agnes die Spielsucht. "Ja, warum nicht ...", heißt es zunächst und dann wird das "gemeinsame Projekt" planerisch angegangen. Und jedes weitere Detail, das es zu berücksichtigen gilt, lässt das Fieber steigen. Bis alles bis ins Kleinste durchdacht ist und eine Frau sich aufmacht, um zu töten.
Zwischen die einzelnen Stationen des Briefwechsels zweier hoch intelligenter Frauen in den Dreißigern hat Nesser Kapitel geschaltet, die zurückblenden. Da sieht man, wie die Freundschaft der Mädchen gerade entsteht, wächst und immer wieder Entscheidungen erfordert. Schlaglichtartig, indem er sich nur auf Schlüsselerlebnisse der Vergangenheit konzentriert, zeigt er die Irritationen, die die Beziehung mit sich bringt. Denn tatsächlich ist es ein gefährliches Miteinander. Eines, in dem der eine Part nur zu geben scheint und der andere nur nimmt. Auch das nimmt und für sich beansprucht, was ihm ganz und gar nicht gehört. Doch beide können nicht lassen voneinander, während in ihrem Umfeld der Tod von Zeit zu Zeit seine Ernte hält.
In Liebe, Agnes spielt übrigens in Deutschland. In der Neckargegend. Das ist nicht so wichtig, aber interessant. Den Roman als schlichte Fingerübung zwischen zwei großen "Werken" abzutun, verbietet sich. Zu gut ist er erzählt, zu raffiniert sind seine Teile miteinander verschachtelt, zu fulminant entwickelt sich der Plot, bis er am Ende gleich mehrere Überraschungen zu bieten hat. Doch dorthin mag, bitteschön, jeder Leser selbst finden. Er wird sich auf keiner Seite langweilen. Versprochen!