Ach, was haben die New Economy und das Internet nicht für coole Geschäftsideen hervorgebracht. Wer nicht in der Lage ist, seiner Liebsten schriftlich mitzuteilen, was sie ihm bedeutet, überlässt das liebesbrief.de. Wer findet, dass sein Gegenüber im Großraumbüro wieder einmal eine Dusche nötig hat, beauftragt Dritte per E-Mail, die Peinlichkeit an den Mann oder die Frau zu bringen. Warum also nicht auch ein Unternehmen, das sich auf professionelle Weise für Dinge entschuldigt, die Menschen angetan wurden. Entlassungen zum Beispiel. Oder falsche Verdächtigungen. Oder Morde ...
Womit wir schon mittendrin wären in Zoran Drvenkars neuem Thriller Sorry. Der spielt im Berlin unserer Tage und lässt vier junge Leute viel Geld damit verdienen, dass sie sich im Namen von Unternehmen bei deren schlecht behandelten Angestellten bzw. Geschäftspartnern professionell entschuldigen. Die beiden Brüder Kris und Wolf Marrer, sowie Tamara und Frauke, mit denen die Männer seit Jahren befreundet sind, ziehen ihre erfolgreiche Agentur binnen Kurzem hoch und können sich vor Aufträgen bald nicht mehr retten. Denn wer wälzt nicht gern Schuldgefühle, die ihn quälen, auf andere ab, wer würde nicht für einen Freibrief zahlen, der ihn losspricht von aller Verantwortung an Handlungen, mit denen anderen Schaden zugefügt wurde? Wer hat nicht gern ein reines Gewissen? Wer verabscheut ruhigen Schlaf?
Doch eines Tages trudelt der Auftrag ein, der das Leben der Vier von Grund auf ändert. Er hört sich zunächst ganz normal an. Ein Zeitpunkt und ein Ort werden mitgeteilt, wo eine stellvertretende Entschuldigung fällig ist. Doch als man dort ankommt, stößt man auf eine grässlich zugerichtete Leiche. Und der Mörder verlangt nicht nur, dass man die Tote wegen der Qualen, unter denen sie starb, um Vergebung bittet, sondern er geht auch ganz selbstverständlich davon aus, dass man sie anschließend "entsorgt". Andernfalls droht er damit, enge Verwandte der vier cleveren Geschäftsleute aufzusuchen und sie büßen zu lassen für das Nichtbefolgen seiner Befehle.
Es beginnen Horrorwochen, in denen die jungen Leute immer hilfloser im Netz des Unbekannten, der aber gar kein so großes Geheimnis um seine Identität macht, zappeln. Eine zweite Leiche muss beseitigt werden. Dann trifft es die ersten aus der Firma selbst. Und die ganze Zeit scheint der Täter ganz in ihrer Nähe zu sein, ist über jede Aktion informiert, mit der sie ausbrechen wollen aus der Falle, in die er sie gelockt hat.
Das Ganze wäre noch nicht jenes komplett in den Bann schlagende Buch, als welches sich Sorry letzten Endes erweist. Denn es gibt durchaus ein paar logische Klippen, an denen die Konstruktion schnell zerschellen könnte. Fraukes Bekannter etwa, ein Polizeikommissar, den die Entnervte in die Villa holt, um endlich reinen Tisch zu machen und wieder ruhig leben zu können, ist gar zu blauäugig, um von dieser Welt zu sein. Und was hindert die vier Erpressten eigentlich wirklich daran, mit der Geschichte bei Leuten herauszurücken, die ihnen helfen könnten. Stattdessen bewaffnet man sich insgeheim mit Pistolen und Messern, um die Sache privat und hinter dem Rücken der anderen zu erledigen, was natürlich nicht gut gehen kann.
Nein, es gibt schon Dinge, über die man gnädig hinwegsehen muss, um sich den Genuss zu erhalten. Der aber entsteht für mich in weit stärkerem Maße aus der raffinierten Konstruktion als aus dem, was da erzählt wird. Natürlich ist die Idee frappant, der Thrill nicht von schlechten Eltern und an Schockeffekten herrscht auch kein Mangel, zumal was die allmählich aus dem Dunkel aufsteigenden Beweggründe des Killers betreffen, die sich in seiner Kindheit verbergen. Doch das WIE des Ganzen macht dieses Buch erst zu dem aus der Masse der deutschen Thrillerliteratur herausragenden Ereignis.
Drvenkar erzählt von der ersten Seite an auf drei zeilichen Ebenen, die er "davor", "dazwischen" und "danach" nennt. Ihnen zugeordnet hat er mehrere Erzählinstanzen - den klassischen auktorialen Erzähler mit Überblick und der Macht zu analysieren, zu arrangieren, zu kommentieren und zu warnen sowie drei personale Erzähler, die sich hinter den Personalpronomen "ich", "du" und "er" verbergen. Zwischen diesen Instanzen wechseln die Perspektiven zum Teil so geschickt, dass ein Blick auf die Ereignisse der Handlung aus unterschiedlichsten Betrachtungswinkeln möglich wird, was zu verblüffenden Effekten führen kann. Einen Gutteil seiner Spannung bezieht der Text außerdem daraus, dass die Personen, die sich hinter den Pronomen verbergen, vom Leser zuerst einmal erarbeitet werden müssen. Am schwierigsten gestaltet sich das mit der Ich-Perspektive auf der Zeitebene des "danach" - sie löst sich erst ganz am Ende des Buchs auf. Über die beiden anderen Blickwinkel kommt freilich schon ziemlich früh die Vergangenheitsdimension ins Spiel, in der alles, was in der Gegenwart geschieht, seine Wurzeln hat.
Sorry ist ein Roman, der Gewalt als Bestandteil unseres Alltags behandelt. Die Vorstellung, aus der heraus seine vier Hauptgestalten eine lukrative Geschäftsidee entwickeln - dass man für seine Taten andere einstehen lassen kann - erweist sich, in die Praxis umgesetzt, schnell als Anmaßung. Einmal in den Strudel der mörderischen Ereignisse geraten, gibt es für Drvenkars Helden kein Entkommen mehr. Und die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld, Verbrechen und Strafe, Täter und Opfer verlieren jene Selbstverständlichkeit, die sie wohl ohnehin nur als Konstrukt des Denkens besessen haben.