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Die aktuelle Rezension
(Mai 2009)

Dagmar Scharsich:
Der grüne Chinese
Hamburg: Argument Verlag 2008,
475 Seiten
ISBN 978-3-86754-180-0
"Für'n Jroschen Jlück"




Mein Gott, die guten alten Zeiten! Berlin, Berlin im Jahre Neunzehnneun. Seit rund einem Vierteljahrhundert war das Nest an der Spree nun Millionenstadt. Kaiser Wilhelm II. ernannte im Sommer Theobald von Bethmann Hollweg zum deutschen Reichskanzler. Robert Walser ließ seinen Tagebuchroman Jakob von Gunten bei Bruno Cassirer erscheinen. Clara Wortmann alias Claire Waldoff sang das Schmackeduzchen Walter Kollos. In den Ausstellungshallen am Zoo fand zum ersten Mal auf europäischem Boden ein Sechstagerennen statt.. Die deutsche Reichspost sorgte dafür, dass man nicht unbedingt mehr Bares bei sich tragen musste. Und ein paar hundert Kilometer südwestlich, in Frankfurt am Main, gründete Ferdinand Graf von Zeppelin die erste Luftfahrtgesellschaft der Welt. Berlin, Berlin!

Aber was war da los mit den Zeppelinen, jenen fliegenden Zigarren, an denen staatlicherseits anfangs so wenig Interesse bestand? Aus der eigenen Tasche sowie aus Spenden und Lotterieerlösen musste der Luftfahrtpionier vom Bodensee seinen Traum zunächst finanzieren. Nur das Volk geriet in Verzückung, wenn die ersten Prototypen um die Jahrhundertwende aufstiegen. Und Unfälle warfen die Entwicklung immer wieder zurück. Fast ein Jahrzehnt verfloss, bis das deutsche Militär die Luftschiffe für den ins Haus stehenden Krieg entdeckte. Sie konnten höher steigen als die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehenden Flugzeuge, legten mühelos riesige Entfernungen zurück und trugen weitaus größere Bombenlasten ins feindliche Hinterland. Von nun an war alles, was sich auf die technische Verbesserung dieser Wunderwaffe bezog, top secret. Und wir sind endlich beim zweiten Roman von Dagmar Scharsich.

Denn genau deshalb wird intrigiert und gemordet im Jahre 1909 in und um Berlin. Und mittendrin im Stress mit graubemäntelten Killern, die dem kaiserlichen Geheimdienst anzugehören scheinen, auf der Jagd nach versteckten Bauplänen und Stoffproben: die Baronesse Wanda von Branndenburg, 28 Jahre alt, einem offensichtlich schwulen Gutsnachbarn verlobt und sich allgemach verliebend in Justus Hansen, den Privatsekretär und Chauffeur ihres Onkels Gustav. Um den und dessen Frau Emmy geht es zunächst. Der Professor und die fortschrittliche Publizistin und Pazifistin verschwinden eines Tages spurlos und hinterlassen ihrer Lieblingsnichte, die kunstbegeistert, freisinnig und aufgeweckt ist, was sie so gar nicht zur Gutsherrin zu disponieren scheint, eine Reihe von dunklen Hinweisen auf eine tödliche Verschwörung rund um den Zeppelin. Als Wanda herausbekommt, dass beide Verwandte ermordet wurden, weitere wichtige Persönlichkeiten, die mit der Verbesserung der Sicherheit des Luftschiffs beschäftigt sind, in Lebensgefahr schweben und sie selbst von Spionen umgeben ist, schafft sie es, die Schuldigen zu überführen und das Werk ihrer Tante zu Ende zu bringen.

Dagmar Scharsich hat diese Geschichte aus dem Berlin des frühen 20. Jahrhunderts mit viel Zeitkolorit versehen. Stilistisch an Vorbildern der Zeit sich orientierend, was den fast 500-seitigen Roman hier und da für den heutigen Leser auch etwas schwerfällig macht, nimmt sie ihre Leser mit in die täglich sich verändernde Weltstadt Berlin am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Geschickt balanciert sie Reelles und Erfundenes aus, lässt historische Figuren auf Gestalten ihrer Erfindung treffen, verdichtet, wo es notwendig scheint, und macht Anleihen bei der zeitgenössischen Trivial- und Heftchenliteratur, wenn ihre Helden durch dunkle Geheimgänge sich tasten oder eine schiere Ewigkeit vergeht, ehe der erste zarte Kuss auf die noch geschlossenen Lippen des Geliebten trifft.

Eingebettet freilich ist dieser historische Kriminalfall in eine Rahmenhandlung, die im Berlin unserer Tage spielt. Hier werden der Antiquarin Marie Baer, die es nicht leicht hat mit ihrem kleinen Laden, dem neureichen Freund Fritz ohne gößeren Sex-Appeal und dem Ex-Buchhändler-Opa Willi, mit dem sie sich die Wohnung teilt, eines schönen Tages tadellos erhaltene Groschenhefte um Deutschlands erste Detektivin, Wanda von Brannburg, angeboten. Und während sie noch dabei ist, den Wert dieses Schatzes zu ermitteln, stellt sich heraus, dass die einzelnen Bände eingewickelt sind in jene Tagebuchaufzeichnungen, die dann die Binnenerzählung ausmachen.

Der grüne Chinese ist ein raffiniert konstruierter Roman, der feine Linien aus der Gegenwart in die Vergangenheit zieht und wieder zurück. Es gibt Komplementärhandlungen, Komplementärfiguren, jede Menge Anspielungen im Jetzt auf das Damals und im Damals auf das Jetzt. Wie die Baronesse ihren Justus bekommt, lässt Marie Fritz sausen und sich von dem lebenslustigen Linus erobern. Und indem Stück für Stück die Besitzverhältnisse um das Haus, in dem einst die Verwandten von Wanda von Branndenburg lebten, sich klären, kann zum Schluss sogar noch einer 93-Jährigen, der Immobilienhaie nach der Wende eben diese Heimstatt abjagen wollen, geholfen werden.

Ende gut, alles gut? Im Wesentlichen ja. Das Buch hat Esprit, Atmosphäre und Witz. Man braucht allerdings eine Weile, bevor man sich hineinfindet. Und hat man sich nach gut 90 Seiten in die Rahmenhandlung eingelesen, kommt die Binnenerzählung mit einem ganz neuen Ton hinzu. Manches ist auch schlicht überflüssig, trägt nichts zur Konfliktentwicklung bei. Erzählökonomie wäre also anzuraten gewesen. Doch was soll's: Kocht man sich halt noch eine Tasse mehr von jenem titelgebenden Tee, mit dem auch Wanda und Marie, Justus und Linus, Opa Willi und die alte Rose von Reventlow, Wandas Tochter, sich alle Anfechtungen vom Leibe halten.



© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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