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Christoph Hein:
In seiner frühen Kindheit ein Garten
Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, 271 Seiten
ISBN 3-518-41667-7
"Wo leben wir eigentlich?"




Nicht einmal ein Jahr ist vergangen seit dem Erscheinen von Christoph Heins großem Gesellschaftsroman Landnahme (Suhrkamp 2004), da steht schon das nächste Buch des Autors in den Regalen. Ein bisschen weniger umfänglich als sein Vorgänger, dafür dichter dran an der Realität des neuen Deutschlands der wiedervereinigten Bundesrepublik.

Hein hat sich diesmal einen authentischen Fall zur Vorlage genommen. Am 27. Juni 1993 starb auf dem Bahnhof des nordwestmecklenburgischen Bad Kleinen bei einem Schusswechsel mit GSG 9 -Beamten der seit 1987 als RAF-Mitglied gesuchte Wolfgang Grams. Zur Gänze wurde dieser Fall nie aufgeklärt. Erste Ermittlungen der Schweriner Staaatsanwaltschaft legten eine Selbsttötung des Terroristen nahe, nachdem dieser einen Polizeibeamten getötet hatte. Dabei ignorierte die Behörde - auf Druck der Bundesregierung, wie es hieß - belastende Aussagen von Zeugen, die gesehen haben wollten, wie ein vermummter Beamter den wehrlos auf den Gleisen liegenden Grams aus Nahdistanz erschoss. Im Zuge der sich über Jahre hinziehenden Ermittlungen traten sowohl der zur Tatzeit amtierende Bundesinnenminister Rudolf Seiters wie auch Generalbundesanwalt Alexander von Stahl von ihren Posten zurück.

Hein interessiert der Fall in mehrfacher Hinsicht. Zum einen schildert er an Hand des Schicksals der Eltern des Terroristen die Rechtlosigkeit des Einzelnen, der sich mit dem Staat, in dem er lebt, auf einen Streitfall einlässt. Sein Terrorist heißt Oliver Zureck Er entstammt einer gutbürgerlichen, fünfköpfigen Familie, in der klassische Bildung - der Vater ist Gymnasialdirektor - eine große Rolle spielt und der Glaube an den Rechtsstaat fest verwurzelt scheint. Als er - nach einer schuldlos verbüßten halbjährigen Untersuchungshaft - in den terroristischen Untergrund abtaucht, beginnen seine Eltern sich zu fragen, was sie falsch gemacht haben. Schließlich gibt vor allem der Vater keine Ruhe, den wahren Tathergang der Tötung in Bad Kleinen aufzuklären und seinen Sohn vom Vorwurf des Mordes an einem Beamten zu entlasten. Der Roman verfolgt über weite Strecken seinen immer verzweifelter werdenden Weg durch Instanzen, die die Wahrheit mehr zu verbergen, denn zu enthüllen scheinen. Am Ende steht Richard Zureck zwar scheinbar als Sieger da, hat auf dem Weg dahin allerdings seinen Glauben an das Gemeinwesen, dessen Interessen er sich über Jahrzehnte zu Eigen machte, verloren.

In seiner frühen Kindheit ein Garten ist allerdings nicht allein der Thesenroman, als den ihn das deutsche Feuilleton bis dato gelesen hat. Natürlich bildet er auch die Enttäuschung des "Neubürgers" Hein über ein Land ab, von dem er sich einst mehr versprach. Und in der Tat erscheint es manchmal recht konstruiert, wie sich der Autor seine kritikwürdigen Verhältnisse zurechtformt. Da muss ein drittes Kind, eine Tochter - der historische Wolfgang Grams besaß allein einen Bruder -, her, das staats- und gesetzestreu in den Spuren des Vaters wandelt und sich innerlich vollständig vom einst heißgeliebten Bruder entfernt hat. Da braucht es links und rechts Kontrastfiguren, die schnurgerade auf den ihnen vorgezeichneten Wegen gehen, entweder nur Gutes tun oder eben sein Gegenteil. Da gibt es wenig Differenzen in den Einzelnen, ist deshalb von vornherein auch niemand in der Lage, Richard Zureck zu irritieren, geschweige denn aufzuhalten.

Aber in dem Doppelporträt des nach Recht und Gerechtigkeit Suchenden und seiner Frau, im gemeinsamen Nachdenken des alten Ehepaares über sich und seine Vergangenheit ist Christoph Hein auch ein so leises wie berührendes Hohelied auf die Gemeinsamkeit gelungen. Ein kleines Lehrstück über die Liebe im Alter. Ein Plädoyer fürs Zusammenstehen gegen Bedrohendes, woher es auch kommen möge. Und nicht zuletzt eine zornige Klage darüber, was in des Autors Augen wider die Natur ist: den Tod der Kinder vor jenem der Eltern.

All das wird einem Erzählgang anvertraut, der auf klasssische Weise voranschreitet, wenig moderne Elemente strapaziert, sich aber auch nur selten im Seitab verliert. Natürlich ist der Jugendfreund, der jetzt als steinreicher Unternehmer figuriert, aber gestiefelt und gespornt gegen den ganzen Staat antreten will, eine Skurrilität. Sicher wäre es nicht ins Gewicht gefallen, hätte Hein die Jugendliebe des Richard Zureck unerwähnt gelassen. Und auch seine Porträts der offenen und heimlichen Mitläufer des Sohnes sind bis auf jenes der Katharina Blumenschläger - geschichtlich die in Bad Kleinen verhaftete Birgit Hogefeld, mit der Grams seit den achtziger Jahren zusammenlebte, literaturhistorisch wohl eine Anspielung auf Bölls Katharina Blum -, zu einfach gestrickt. Alles in allem vermag das aber nur wenig zu stören. Am Ende seines Weges widerrruft Richard Zureck seinen einst geleisteten Eid auf den Staat. Er tut es vor Schülern seines alten Gymnasiums und gegen den Willen seines Nachfolgers auf dem dortigen Direktorposten. Aber es ist die ehrliche Konsequenz aus allen seinen Erfahrungen. Und sie kulminiert in dem Bekenntnis: "Ich habe jahrzehntelang in einem Land gelebt, von dem ich offenbar nie etwas begriffen habe. Ich habe ein Leben lang meinen Schülern Dinge beigebracht, die völlig unsinnig sind. Die sie in diesem Land überhaupt nicht gebrauchen können. Ich habe sie für ein Leben in einer Gesellschaft vorbereitet, die lediglich in meinem Kopf existierte. Ich habe nichts verstanden. Ich bin ein Idiot ..." (S. 114)

Danach könnte er sich abwenden. Doch der Roman bietet fast so etwas wie ein happy end auf. Einen Neuanfang jenseits aller gesellschaftlichen Zwängen. Im Privaten. Wo man sich gerne, aber auch voll Wehmut an die Gärten der Kindheit erinnert, die man später nur noch gemalt und dann langsam vergessen hat.

© 2005 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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