Stellen Sie sich vor, dass ein auf Sie zugelassener Wagen einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht - und Sie haben zur selben Zeit zu Hause gesessen. Malen Sie sich aus, dass von einem Ihrer Konten Unsummen abgebucht werden für einen Grundstückskauf - und Sie kennen das Haus gar nicht, das Sie per Millionenkredit erworben haben sollen. Erwägen Sie für einen Augenblick die Möglichkeit, nach Ihnen könnte gefahndet werden, weil Ihr Name im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten immer wieder auftaucht. Unangenehm, oder? In Zeiten von Datendiebstählen weltweit aber längst nicht mehr jenseits des Vorstellbaren.
Charles den Tex hat in seinem zweiten Thriller um den Unternehmensberater Michael Bellicher - für den ersten, Die Macht des Mr. Miller (2005, deutsch 2007 ebenfalls bei GRAFIT), wurde er mit dem niederländischen Krimipreis "Gouden Strop" ausgezeichnet - genau diese Situation einer Identität, über die plötzlich andere verfügen, um aus dieser perfekten Tarnung heraus Verbrechen zu begehen, zu einer ebenso spannenden wie nachdenkenswerten Geschichte ausgebaut. Gewürzt ist das Ganze mit jeder Menge Action, ein bisschen Liebe und Humor sowie einem den übertriebenen Sicherheitsbedürfnissen der westlichen Gesellschaften nach dem 11. September 2001 kritisch nachfragenden Grundton. Und anfangen tut es mit einem Verkehrsunfall.
Natürlich kann Charles den Tex' Held nicht ahnen, wer da plötzlich im Wagen vor ihm die Kontrolle über das Steuer verliert und tödlich verunglückt. Ihm bleibt nur noch, die Polizei zu rufen. Die freilich scheint nur auf diesen Moment gewartet zu haben, um Bellicher wegen Fahrerflucht festzunehmen. Denn ein auf seinen Namen zugelassenen BMW wurde als das Fahrzeug identifiziert, mit dem kurz zuvor ein Fahrradfahrer kollidierte. Der ist an den Folgen des Delikts verstorben - und Bellicher soll nun der Täter sein.
Die Zelle legt von Anfang an ein hohes Tempo vor. Kaum dass er sich versieht, sitzt Bellicher im Knast und muss sich Gedanken darüber machen, wie es geschehen konnte, dass jemand an die Daten herankam, die seine öffentliche Person ausmachen. Und wieder auf freiem Fuß, beginnt er sofort mit der Jagd auf die Identitätsdiebe und ihre Hintermänner. Dabei unterstützen den smarten Jungkapitalisten eine aufregende Anwältin, die freilich, wie man später erfährt, auch ziemlich eigennützige Motive umtreiben, sowie ein von seinem Geschäftspartner Gijs van Olde Nieland abgeordneter Familienangehöriger als gewitzter Bodygard. Und da die van Olde Nielands eine Sippschaft sind, ohne die in Holland kaum ein Mühlrad sich dreht, darf Michael auch gelegentlich auf die guten Kontakte dieser Familie zurückgreifen, die es natürlich nicht zulassen kann, dass einer ihrer Sprösslinge in schlechtes Gerede kommt.
Also alles halb so schlimm am Ende? Nur vordergründig, denn den Tex' Held ist sein Geld ja für's Erste wirklich los. Und ehe er beweisen kann, wer das Auto fuhr, das auf seinen Namen angemeldet war, muss er eine Menge gefährlicher Situationen mit skurrilen Figuren hinter sich bringen, unter anderen eine Verfolgungsjagd quer durch eine riesige Gewächshäuserlandschaft - die sich auch als exotischer Hintergrund für einen der nächsten Bondfilme eignen würde - sowie die kafkaesken Erlebnisse während einer Terrorbekämpfungsmaßnahme, an deren logistischer Planung er ironischerweise selbst beteiligt war.
Dass auch der Unfall, mit dem alles ins Rollen kam, kein Unfall, sondern heimtückischer Mord war, überrascht den Leser dann auch nicht mehr. Das Opfer des Crashs erweist sich als Leiter einer staatlichen Untersuchungskommission, die zu überprüfen hatte, ob die Mittel, die der niederländische Staat in die Integrationspolitik investiert, nicht ganz anderen Zwecken dienstbar gemacht werden. Deshalb musste der Mann sterben, wobei seine Mörder sich hinter Identitäten verstecken, die - wie jene Bellichers - auf dem freien Markt für gutes Geld zu haben sind.
Vielleicht versucht Die Zelle ein paar Probleme zuviel in die spannende Handlung zu integrieren. Es geht um den Terrorismus nach dem 9. September, um die Integrationspolitik der Niederlande, um die Gefahren des Internets, um Korruption, um Probleme des Strafvollzugs und so weiter. Doch wenn man das alles erst einmal gut sortiert und auf die Reihe gebracht hat, macht es viel Spaß und hat sogar ein Happy End. Nur wenn man den nächsten den Tex im Internet bestellt, wird man wohl etwas besser aufpassen, welche Informationen man freiwillig über sich preisgibt.