
Zum fünften Mal nimmt Camilla Läckberg ihre Leser in Engel aus Eis mit in das kleine schwedische Städtchen Fjällbacka. Inzwischen fühlt man sich schon ziemlich heimisch dort, kennt das Personal - die Schriftstellerin Erica Falck und deren Schwester Anna, ihren Mann, den Polizisten Patrik Hedström, und dessen Kollegen um den mit Patrik befreundeten Martin Molin und den nur allzu gern den großen Macher herauskehrenden Polizeichef Bertil Mellberg -, weiß, wo man Fjällbacka geografisch zu verorten hat und ist auch darauf eingestellt, von der schwedischen Bestsellerautorin keine knallharte Action zu bekommen, sondern einen sauber ausgearbeiteten Plot mit psychologischem Tiefgang, menschlichem Gespür und historischem Bewusstsein.
Natürlich hat sich seit dem letzten Läckberg-Krimi einiges in Fjällbacka getan - und tut sich noch auf den 500 Seiten des neuen Romans. Erica zum Beispiel kann endlich an ihr nächstes Buch gehen. Töchterchen Maja wechselt nach ihrem ersten Geburtstag in die Obhut des Papas, der - misstrauisch vom erzkonservativen Bertil Mellberg beäugt - seinen Erziehungsurlaub antritt. Mellberg selbst verliebt sich plötzlich, lernt Salsa tanzen, wird von den verwunderten Kollegen bei Stretching-Übungen im Büro überrascht und findet sich am Buchende gar in einem Kreißsaal wieder, zwischen Faszination und Fluchtreflex die verschwitzte Hand einer Gebärenden haltend. Und zu der kleinen Polizeitruppe in der Tanumer Dienststelle stößt mit Paula Morales eine Exilchilenin mit aufregender Biografie und ein bisschen Angst vor den Tücken der Provinz.
Wo so viele Dinge im Fluss sind, ist man dankbar für jedes bisschen Kontinuitär. Selbst wenn es darin besteht, dass am Anfang des Buches wieder einmal eine Leiche auftaucht. Diesmal hat der Tote, den zwei jugendliche Einbrecher finden, schon den ganzen Sommer lang in seinem Schreibtischstuhl gesessen. Entsprechend desolat ist sein Zustand. Auf alle Fälle aber ist ein Mord aufzuklären, das wird schnell klar. Das Opfer ist der jüngere von zwei Brüdern, die man als die "Söhne vom Doktor" in Fjällbacka gut kennt. Es sind merkwürdige Junggesellen, die kaum jemand an sich heranlassen. Der Ältere, Axel Frankel, arbeitet für das Simon-Wiesenthal-Zentrum von Paris aus und ist auf der Jagd nach verschwundenen Nazi-Verbrechern, Erik, sein jüngerer Bruder, interessiert sich ebenfalls für Deutschlands finsterste Geschichtsperiode und sammelt alles aus jenen Jahren, um mitzuhelfen, die Erinnerung an das Unfassbare wachzuhalten.
Wo zwei Intellektuelle sich dermaßen engagiert mit der Vergangenheit auseinandersetzen und auch die Augen nicht verschließen vor den neonazistischen Umtrieben in der heutigen schwedischen Gesellschaft, liegt natürlich die Vermutung nahe, dass der oder die Mörder Erik Frankels zur gar nicht so kleinen rechtsradikalen Szene des Landes zählen. Und einer von Eriks Jugendfreunden, Frans Ringholm, seines Zeichens Gründer der neonazistischen Gruppierung "Schwedens Freunde", zieht in der Tat den Verdacht sofort auf sich. Zur selben Clique aber, die sich 1943 und 1944 fünfzehnjährig die Zeit in Fjällbacka mit ersten Liebesabenteuern vertrieb, gehörten auch die Mutter von Erica Falck, Elsy Moström, deren Freundin Britta und später ein nach Schweden geflüchteter norwegischer Widerständler, Hans Olavsen, dessen Weg sich nach Kriegsende im Nichts verliert.
Engel aus Eis blendet erzähltechnisch zwischen den letzten Kriegsjahren und der unmittelbaren Gegenwart immer hin und her. Dadurch, dass die eigene Mutter in einen Fall verwickelt scheint, der 60 Jahre später noch zu blutigen Konsequenzen führt, wird auch das Interesse von Erica Falck geweckt. Gemeinsam mit ihrem Mann, der es sich selbst im Erziehungsurlaub nicht abgewöhnen kann, auf Verbrecherjagd zu gehen, beginnt sie, einen tief in die eigene Familiengeschichte und diejenige ihres Heimatlandes hinabreichenden Fall aufzudröseln. Wenn der Mörder schließlich am Ende geständig ist und offenliegt, was damals wirklich geschah, hat sich auch die private Welt von Camilla Läckbergs sympathischen Helden gewaltig verändert.
Auch der neue Fall von Erica, Patrik und dessen Kollegen bleibt spannend bis zur letzten Seite. Vielleicht packt Camilla Läckberg dabei zu viele heikle Themen an und kommt so hin und wieder ein bisschen vom roten Faden ab. Jenseits des didaktischen Furors, der dem Leser auch die eine oder andere allzu platte Predigt beschert, ist ihre Geschichte aber ein spannendes Exempel dafür, wie schmerzhaft eine Vergangenheit wieder aufbrechen kann, die man glaubte, wie eine nutzlos gewordene Haut einfach abstreifen zu können.