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Die aktuelle Rezension
(Januar 2010)

Arnaldur :
Kälteschlaf
Bergisch Gladbach: Lübbe 2009,
381 Seiten
ISBN 978-3-7857-2361-6
"Kein Himmelreich. Keine Hölle. Gar nichts."




Alles beginnt mit einem Selbstmord. In ihrem Ferienhaus am See von žingvellir - östlich von Reykjavík gelegen - wird die Romanistin María von einer Freundin tot aufgefunden. Weil bei Suiziden automatisch die Polizei eingeschaltet wird, erscheint Indrišasons Reykjavíker Kommissar Erlendur, den der Leser schon als Ermittler aus sieben anderen Fällen kennt, am Ort des Geschehens. Und ohne dass es zunächst konkrete Verdachtsgründe gäbe, beginnt Erlendur, sich mehr für die Geschichte der Toten zu interessieren, als dass bei einem Suizid in der Regel üblich ist. Denn weder war die Frau der Typ, der sein Leben plötzlich und ohne wirkliche Gründe beendete, noch sind die Verhältnisse, in denen sie lebte, so beschaffen, dass niemand von ihrem plötzlichen Ableben profitieren könnte.

Näher als in diesem Roman ist der Leser bisher noch nicht an Arnaldur Indrišasons Serienhelden herangekommen. Nicht eigentlich sympathisch in seiner Verschlossenheit, hat man im Verlauf seiner bisherigen Fälle doch schon eine Menge Privates über ihn erfahren. Geschieden und Vater zweier problematischer, schon erwachsener Kinder, lebt der in seinen Ermittlungen penibel auf jedes scheinbar nebensächliche Detail achtende Mann ein unauffälliges Dasein in Islands Metropole. Im Falle der Toten vom žinvellir-See stößt er im Umfeld von deren Mann, dem Arzt Baldvin, allerdings bald auf etliches Merkwürdiges, das ihn nicht nur zu einem kriminalistischen Alleingang treibt, sondern auch Parallelen zu zwei Fällen aus der Vergangenheit aufweist, von denen einer Erlendur ganz persönlich betrifft und ihm seit Jahrzehnten die Seele beschwert.

Haršskafi heißt der Originaltitel des Romans. Es ist der Name eines Berges in den ostisländischen Eskifjöršur-Bergen, wo Erlendur mit seinen Eltern und einem jüngeren Bruder auf einem einsamen Bauernhof aufwuchs, bevor der Weg der Familie ins besiedeltere Westisland führte. Ursache für die Aufgabe des Hofes und den Umzug nach Reykjavík war jene Tragödie, die die Persönlichkeit des Kommissars von Kindheit an prägte und deren Verarbeitung noch immer aussteht. Auf einer Bergtour hatte den Vater und seine beiden Söhne - damals acht und zehn Jahre alt - ein Schneesturm überrascht. Sie wurden voneinander getrennt. Doch während es dem Bauern mit Mühe und Not gelang, zurück auf seinen Hof zu kommen, um Hilfe von außen herbeizurufen, mussten die Kinder versuchen, allein in dem furchtbaren Unwetter zu überleben. Das gelang nur dem Älteren, allerdings auf Kosten des Traumas, ihn treffe die Schuld am Tode seines Bruders, der für immer verschwunden blieb. "Eigen und teilnahmslos" sei der Zehnjährige seit diesen Tagen gewesen, verzeichnet eine Chronik nach der Beschreibung des tragischen Ereignisses, und dies trifft tatsächlich Erlendurs Gemütslage auch noch im fortgeschrittenen Alter.

Unfall oder Tat, die Schuld begründete und dementsprechend zu sühnen wäre? Diese Frage steht - dreimal sogar - über dem, was Indrišason erzählt. Denn zu Erlendurs eigenem Fall und dem der Selbstmörderin María, deren Mann mit einer Jugendliebe wieder angebandelt hat und im Übrigen finanziell am Rande des Abgrunds steht, gesellt sich noch eine längst verjährte Vermisstensache, die wieder aktuell wird, weil der im Sterben liegende Vater des seit drei Jahrzehnten Abgängigen den Kommissar noch einmal aufsucht, um vor Antritt seines letzten Weges doch noch zu erfahren, aus welchem Grund sein Kind einst von einem Tag auf den anderen verschwand.

Kälteschlaf ist ein Roman, der wirklich gefangennimmt. Nach dem ein bisschen arg spektakulären Historienkrimi Codex Regius um die so genannten "Lieder der Lücke" aus der wichtigsten erhaltenen mittelalterlichen Textsammlung Islands, in dem es hundert Jahre lang kreuz und quer durch Europa, zu Lande und auf dem Wasser, in verborgenen Höhlen und schimmligen Grüften darum ging, Dokumente von nationalem Wert vor Nazis und egoistischen Wissenschaftlern in Sicherheit zu bringen, kehrt mit Erlendur nun wieder wohltuende Ruhe und Realistik in Indrišasons Romanwelt ein. Selbst das, was auf den ersten Blick okkult und rätselhaft erscheint, findet schließlich seine ganz rationale Erklärung. Und vielleicht begegnet uns, nach allem Trost, den der Romanschluss auch für Indrišasons Helden bereithält - allein der Fall, mit dem das Buch einsetzt, findet (vorerst) kein Ende im Zeichen der Gerechtigkeit -, in Island-Krimi Nummer 8, den Arnaldur Indrišasons deutscher Verlag für Frühjahr 2010 angekündigt hat, ein gänzlich anderer Erlendur wieder. Wir sind auf jeden Fall gespannt, wären allerdings auch ein wenig enttäuscht, wenn der grummlige Kommissar plötzlich zum enthusiasmierten Opern- und Theatergänger mutierte und mit seiner aktuellen Freundin Valgeršur schnurstracks Urlaub auf den Kanaren buchen würde.


© 2010 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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