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Die aktuelle Rezension
(Januar 2009)

Arnaldur Indriğason:
Codex regius
Bergisch Gladbuch: edition Lübbe 2008,
445 Seiten
ISBN 978-3-7857-1623-6
Ein Thriller als "Lücken"-Füller




Beim Codex Regius handelt es sich um die wichtigste erhaltene mittelalterliche Textsammlung Islands. Als eine Art Nationalheiligtum enthält die Pergament-Handschrift aus dem Ende des 13. Jahrhunderts unter anderem die sogenannte Lieder-Edda, Götter- und Heldensagen der nordischen Mythologie in Versen, deren Entstehung teilweise bis ins neunte Jahrhundert zurückreicht. 1743 geriet die Handschrift in den Besitz des isländischen Bischofs und Sammlers Brynjólfur Sveinsson, von dem sie zwanzig Jahre später in die Königliche Bibliothek Fredrik des Dritten nach Kopenhagen gesandt wurde, weil es zu der Zeit in Island noch keine dem Pergament adäquaten Aufbewahrungsmöglichkeiten gab.

Der Codex Regius besteht aus insgesamt 45 Pergamentblättern. Nach Blatt 32 fehlen acht Blätter, über deren Verbleib unterschiedliche Spekulationen im Umlauf sind. Diese so genannten "Lieder der Lücke" zu rekonstruieren, wie die Forschung es verschiedentlich unternehm, ist unter Handschriftenexperten umstritten. Aus Dänemark kehrte die Handschrift erst 1971 nach Island zurück, wo sie seitdem im Arnamagnäanischen Handschrifteninstitut zu Reykjavík aufbewahrt wird.

In Arnaldur Indridasons Thriller aus dem Jahr 2006 spielt der Codex Regius die Hauptrolle. Halb Europa wird als Schauplatz einbezogen, wenn ein namenloser Professor und der bei ihm in Kopenhagen studierende Valdemar, Ich-Erzähler des zweiten und dritten Buchteils, sich auf die abenteuerliche Suche nach dem Original und den fehlenden "Liedern der Lücke" begeben. Indridason bleibt mit diesem Roman einem Anliegen aller seiner bisherigen Bücher treu: seine Heimat im Norden Europas nicht nur als exotische Kulisse in die Literatur einzubringen, sondern zugleich um Sympathien zu werben für Land und Leute, deren Eigenheiten herauszustreichen und sich zu wehren gegen Tendenzen kultureller Überfremdung und der damit drohenden Auslöschung des Eigenen.

Die Handlung des Romans nimmt einen Zeitraum von knapp einhundert Jahren ein. Ein kurzer erster Teil, der zu Beginn des Winters 1863/ 64 spielt, konfrontiert den Leser mit einem Grabraub weit abseits der Zivilisation Westislands, dem sich der brutale Mord an einem einsam lebenden Bauern anschließt. Erst der zweite Teil, zeitlich im Jahre 1955 einsetzend, bringt Licht ins Dunkel dieser Tat. Am Ende schließlich - 1971 - erlebt der Leser gemeinsam mit dem Ich-Erzähler an Bord der dänischen Korvette Vœdderen die Rückkehr des Codex Regius aus seinem mehrhundertjährigen Exil. In der Szene am Hafen von Reykjavík, wo eine riesige Menschenmenge die Rückkehr der unschätzbar wertvollen Kulturschätze bejubelt, erreicht das Buch wohl seine größte Deckung mit der historischen Realität. Ansonsten ist die Geschichte um den Verlust und die abenteuerliche Wiederbeschaffung der Pergamente reine Fiktion. Der Autor nutzt diese aber dazu, unterderhand viel Wissenswertes an seine Leser zu vermitteln und eine spannende Schatzsuche zu inszenieren, die durchaus zu fesseln versteht.

In der Beziehung des Professors zu seinem "Jünger" Valdemar knüpft Arnaldur Indridason nicht ohne Witz an eine literarisch weit verbreitete Figurenkonstellation an. Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, der Abbé Faria und Edmond Dantès, Phileas Fogg und Passepartout oder, da es um Island geht, Professor Lidenbrock samt seinem Neffen Axel aus der ebenfalls in der Gletscherlandschaft des hohen Nordens startenden Reise zum Mittelpunkt der Erde - sie alle kommen einem in den Sinn, wenn man miterlebt, wie der Ältere und Welterfahrenere einen ihm ganz und gar ergebenen Eleven anleitet und lenkt. Und so folgt Indridasons Ich-Erzähler seinem Idol durch dick und dünn, steht ihm bei in mancherlei Gefahren und wird auf den gemeinsamen Wegen, die durch Dänemark, Ost- und Westdeutschland sowie durch die Niederlande führen, zu einem Menschen, der mehr und mehr Verantwortung und ganz am Ende sogar die Rolle des Gralshüters von seinem sterbenden Lehrmeister übertragen bekommt.

Codex Regius spart nicht mit atemberaubenden Situationen. Der Roman geht weit in die Historie zurück und konstruiert gewagte Geschichten um die wertvollen Pergamente. Er lässt die "Lieder der Lücke" aus dem Dunkel der Zeit auftauchen - der Thriller als "Lücken"-Füller sozusagen - und ebenso schnell wieder verschwinden, bringt alte Nazis und ihre verbohrte Nachkommenschaft ins Spiel. Halldór Laxness, Islands erster Nobelpreisträger (1955) darf höchstpersönlich den Weg der Helden kreuzen und in die Zeit der deutschen Besatzung Dänemarks zwischen 1940 und 1945 verlegt er eine Widerstandsgeschichte, aus der heraus sich die Lebenstragik seines Professors erklärt. Das alles streift gelegentlich ziemlich schmerzhaft das weite Feld der Kolportage, ist insgesamt wohl auch ein wenig zu lang geraten und in der Zeichnung der Nebenfiguren häufig allzu schematisch - Gewinn bringend aber liest es sich allemal, bringt es seinen Lesern doch so leicht wie unterhaltsam bei, welch großer Beitrag zur europäischen Kultur und zur Literatur der Welt im hohen Norden Europas geleistet wurde.



© 2009 by Dietmar Jacobsen/ Alle Rechte beim Autor


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